Leistungsprinzip und Heimatliebe

Wenn die AfD das Kultusministerium übernimmt …

HLZ 5/2020: Rechte Hetze und Gewalt

Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern zeigen, dass die AfD im Begriff ist, sich fest im deutschen Parteiensystem zu verankern. Was es heißen könnte, sollte sie jemals Regierungsverantwortung bekommen, veranschaulicht unser Berliner Kollege Joshua Schultheis am Beispiel der Bildungspolitik.

In der taz vom 2. Oktober 2019 spielt Philipp Rausch, bekannt als Gründer des Zentrums für politische Schönheit, ein düsteres Szenario durch – wohlgemerkt noch bevor der FDP-Politiker Kemmerich (kurzfristig) mit den Stimmen der Höcke-AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wurde. Man stelle sich vor, so der Alptraum Rauschs, die AfD würde in der Bundestagswahl 2025 mit 33 Prozent aller Stimmen zur stärksten Kraft im Parlament gewählt: Obwohl sich alle anderen Parteien zu einer „Rettungskoalition“ zusammenschließen, versinkt das Land im Chaos, gibt es bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen. Als auch Neuwahlen nichts an der Lage ändern, knickt zuerst die Presse und danach die CDU ein. Mit dem Rückenwind der wichtigsten Medien geht die CDU schließlich ein Bündnis mit der AfD ein. Der Faschismus ist wieder an die Macht gekommen, auf genau dieselbe Art wie 1933. Philipp Rausch schließt seinen Essay mit einer Beschwörung: „Die AfD darf niemals an einer Regierung beteiligt werden. Daran dürfen wir nicht einmal denken.“

Gedankenspiele: Nicht nur von Hinterbänklern

Doch leider wird daran sehr wohl gedacht. Reaktionen aus CDU und FDP auf die Wahl Kemmerichs, Stimmen von CDU-Mitgliedern in Sachsen-Anhalt, die der ungeliebten Kenia-Koalition überdrüssig sind, zeigen, dass die Beschwörungen der Bundes-CDU schnell Schnee von gestern sein können. Frank Scheurell, CDU-Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt, erklärte, man müsse „mit allen demokratischen Parteien reden“ und dazu zähle für ihn „auch die AfD“. Der CDU-Kreisverband Harz fordert eine Bereitschaft zur Koalition mit den Parteien, „mit denen die größten Schnittmengen vereinbar sind“. Und die gebe es in vielen Bereichen nicht mit Grünen oder SPD, sondern mit der rechtspopulistischen AfD. Das gilt auch für das Politikfeld, mit dem man sich auf Landesebene am stärksten profilieren kann: die Bildungspolitik. Um sich auszumalen, was es hieße, wenn die Rechten wieder über unsere Bildungsinstitutionen bestimmen würden, braucht es jedoch nicht das Gedankenexperiment eines Künstlers. Es reicht ein Blick in die Wahlprogramme der AfD, um eine Ahnung davon zu bekommen, was uns dann blüht.

Die Programme der AfD im Bund und in den Ländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, die hier exemplarisch analysiert werden sollen, halten für unbedarfte Wählerinnen und Wähler in Sachen Bildungs- und Wissenschaftspolitik einiges Unverfängliche bereit: Schulsanierungen, mehr Lehrkräfte, regionales Schulessen, Förderung ländlicher Kleinschulen, eine bessere Grundfinanzierung der Universitäten, größere Unabhängigkeit von Drittmitteln, mehr Festanstellungen im Mittelbau und so weiter. Wer an einer Uni oder Schule arbeitet, kommt kaum umhin, genau wie die AfD die Verschulung des Studiums oder eine verfehlte Inklusionspolitik zu beklagen. Die AfD legt den Finger dahin, wo es weh tut. Für die Schule heißt das: fehlende Anerkennung für Lehrkräfte, eine blinde Technisierung der Schulen, abfallendes Leistungsniveau in den Gymnasien und die Geringschätzung aller Bildungswege, die nicht zum Abitur führen. Für die Hochschulen: Unterfinanzierung, schlechte Arbeitsbedingungen, überfüllte Hörsäle, die schlechte Bilanz der Bologna-Reform und die Entkernung der Humboldtschen Universitätsidee durch die Aufgabe der Einheit von Forschung und Lehre.

Ein Blick in die Programme der AfD

Ihre vernichtende Diagnose einer „darbenden Bildung“ mag für viele etwas Verführerisches haben. Die Maßnahmen aber, die die AfD daraus ableitet, lassen keinen Zweifel daran, dass ihre Bildungspolitik vor allem durch autoritäres Denken sowie rassistische und sozialdarwinistische Vorstellungen motiviert ist. Die Antworten der AfD auf die steigenden Abiturquoten und voller werdenden Universitäten sind die Rückkehr zum dreigliedrigen Schulsystem und zu den alten Diplom- und Magister-Abschlüssen, höhere Leistungsansprüche im Gymnasium sowie Aufnahmetests als zusätzliche Hürde auf dem Weg zum Studium. Die Formeln lauten „Qualität vor Quantität“ oder „Mut zu Leistung statt Akademisierungswahn“. Das Studium soll nur noch für entsprechend „begabte und strebsame junge Menschen“ offen stehen; für die „stärker praktisch als theoretisch“ Begabten sind praxisorientierter Schulunterricht und eine Berufsausbildung vorgesehen.

Der Umstand, dass „Inklusion“ bisher vor allem als Vorwand benutzt wird, um durch die Zusammenlegung von Schulen Geld zu sparen, lässt die AfD nicht etwa kleinere Klassen und mehr Personal für die Regelschulen versprechen, sondern den Ausbau der Sonderschulen. Während Kinder mit Behinderungen wieder aus den regulären Schulen verschwinden sollen, plant die AfD eine stärkere Förderung „Hochbegabter“. Die krude Begründung: „Schülerinnen und Schüler haben ein Recht darauf, in einem nach oben und unten durchlässigen Schulsystem Erfolge und Niederlagen zu erfahren.“

Die Bildungspolitik der AfD ist getrieben von quasi natürlich angelegten „Veranlagungen und Begabungen“. Das größte Manko des aktuellen Schulsystems sieht die AfD darin, dass es den Menschen nicht mehr die Plätze zuweist, auf die sie „natürlicherweise“ gehören. Deshalb befürwortet die AfD auch „uneingeschränkt das Leistungsprinzip“, demgemäß ausgesiebt werden muss, wer nicht mithalten kann. In der Summe stellt das Programm der AfD nichts anderes dar als die Zurücknahme der teilweisen Demokratisierung unseres Bildungssystems in den letzten Jahrzehnten. Aus den Gymnasien und Universitäten sollen die Bevölkerungsteile wieder verjagt werden, die gerade erst dabei waren, sich ihr uneingeschränktes Recht auf Bildung zu erkämpfen. Die AfD, die sich gelegentlich auf die „Tradition der beiden Revolutionen von 1848 und 1989“ beruft, will Zeiten wiederbeleben, in denen akademische Bildung noch ein Privileg der Wenigen war und niemand die „natürliche, ordnende Autorität“ der Lehrkraft in Frage stellte.

„Veranlagungen“ und „Begabungen“

In den Genuss dieses – der menschlichen Natur endlich wieder zu ihrem Recht verhelfenden – Schulsystems sollen nur die deutschen Kinder kommen. Für die Kinder von Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten hat die AfD etwas anderes vorgesehen, denn die Bildungsmisere und der verschärfte Lehrkräftemangel in Deutschland seien vor allem Folgen von „Massenimmigration und Familiennachzug“. Außerdem habe sich gezeigt, „dass diese Kinder, nicht zuletzt wegen ungenügender Sprachkenntnisse, dem Unterricht schlecht folgen können und dadurch einheimische Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernfortschritt behindern“. Die Schule müsse deshalb den eingeborenen Schülerinnen und Schülern „Heimatliebe vermitteln“ und die Kinder der „weitgehend illegalen“ Migrantinnen und Migranten „auf das Leben nach der Rückkehr in ihr Herkunftsland vorbereiten“. Am deutlichsten sagt das die Thüringen-AfD um den ehemaligen Geschichtslehrer Björn Höcke: „Thüringen braucht keine bildungsfernen Migranten. (…) Wir werden daher unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung eine massive Abschiebungsinitiative starten.“

Bei den Universitäten beschwört die AfD gerne den Mythos Wilhelm von Humboldt. Das Vermächtnis des preußischen Reformers, der Deutschland zur „weltweit führenden Bildungs- und Wissenschaftsnation“ gemacht habe, werde jetzt durch unfähige Studierende, die Bologna-Reform und die „planwirtschaftlichen Zielvorgaben“ (etwa bei den Frauenquoten) zunichte gemacht. Um den deutschen Hochschulen zu altem Glanz zu verhelfen, soll es nun vor allem weniger Studierende geben. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Versprechen der AfD verstehen, eine bessere Grundfinanzierung zu gewährleisten und die Drittmittelabhängigkeit zu verringern. Nimmt man die teilweise Öffnung der Universitäten zurück, die für viele die Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet, hat man genug Geld, um die so ausgelesene Elite großzügig zu finanzieren. Da Humboldt für die Freiheit der Wissenschaft stehe, sollen auch die Zivilklauseln, die militärische Forschungen verbieten, abgeschafft werden. Und weil Wissenschaftsfreiheit bedeute, „frei von ideologischen Zwängen“ zu sein, sollen auch die Lehrstühle für Gender Studies eingestampft werden. Bei der Vorstellung dieser Zurück-zu-Humboldt-Universität der AfD würde sich ihre unfreiwillige Gallionsfigur im Grabe umdrehen.

Noch haben die ostdeutschen Länder Koalitionsregierungen ohne Beteiligung der AfD, in Thüringen nur noch um den Preis einer Minderheitsregierung. Auch die Kenia-Koalitionen aus SPD, CDU und Grünen in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind fragil. Deshalb wird der Druck auf die CDU wachsen und die Reihen der Hinterbänklerinnen und Hinterbänkler verlassen. Denn eigentlich können CDU und AfD gerade in der Bildungspolitik gut miteinander: dreigliedriges Schulsystem, Vermittlung konservativer Werte im Unterricht, Segregation von Kindern, „die nicht ausreichend Deutsch sprechen“, wie es im Regierungsprogramm der CDU Thüringen heißt, Hochbegabtenförderung, weniger Akademikerinnen und Akademiker und Abschaffung der Zivilklausel. Noch grenzt sich die CDU von dem eindeutig rassistischen und verschwörungstheoretischen Weltbild der AfD ab. Doch für einen Teil der CDU-Mitglieder sind die Schnittmengen mit der AfD viel größer als mit den „linksradikalen Grünen“, wie es jüngst in einer Erklärung der Werteunion hieß.

Instabile Koalitionen in Ostdeutschland

Das Szenario eines Rechtsaußen-Kultusministers in mindestens einem dieser Bundesländer muss also nicht, wie in dem Szenario von Philipp Rausch, ins Jahr 2025 verlegt werden. Auch wird die AfD dafür keine 33 Prozent benötigen. Die Wahlergebnisse der AfD in den letzten Landtagswahlen reichen für gemeinsame Mehrheiten mit der CDU aus und der Grundstein für eine „bürgerliche Koalition“ wird heute schon in beiden Parteien gelegt. Man muss damit rechnen, dass der parlamentarischen Rechten bald nicht mehr nur Portale zur Denunziation von Lehrkräften oder Kleine Anfragen als politisches Gestaltungsmittel zur Verfügung stehen, sondern sie auch direkte Weisungsbefugnis über Schulen und Universitäten erhält. Anstatt diese Möglichkeit aus den Gedanken zu verbannen, gilt es jetzt darüber nachzudenken, wie unter solchen Bedingungen Widerstand aussehen könnte, wie sich in Schulen und Universitäten oppositionelle Strukturen stärken ließen und welche Möglichkeiten es für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Studierende und Dozierende geben wird, sich zur Wehr zu setzen.    

Joshua Schultheis

Joshua Schultheis ist Mitglied der Redaktion der bbz, der Mitgliederzeitschrift der GEW Berlin, und Lehramtsstudent für Deutsch und Philosophie an der Humboldt-Universität. Der Artikel aus der bbz 12/2019 wurde für die HLZ aktualisiert. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.

Empfehlungen der GEW zum Umgang mit „Petzportalen“ findet man unter https://www.gew.de/schule/fragen-und-antworten-zu-den-denunziationsplattformen-der-afd/.