Politische Bildung in Krisenzeiten

Klima, Krieg, Corona: Keine Zeit für „business as usual“

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Putins räuberischer und mörderischer Krieg gegen die Ukraine eröffnet eine neue Dimension der Auseinandersetzung um die politische Bildung und ihre Aufgaben in der Schule. Neben dem Klimawandel und der Corona-Pandemie ist dies die dritte aktuelle und existenzielle Krisenerscheinung. Diese Krisen haben mit politischen Entscheidungen, mit Macht und Herrschaft, Recht und Unrecht, Interessen und Ökonomie zu tun. Wir müssen sie mit Kindern und Jugendlichen bearbeiten, denn Lehrkräfte sind dafür verantwortlich, aktuelle Fragen und  Ängste aufzugreifen, Wissensbrocken zu sortieren und der Beeinflussung durch Verschwörungstheorien, Verleugnungen und Lügen entgegenzuwirken.

Das Jahr 2022 und die nächsten Jahre sind keine Zeit für „business as usual“. Wo bisher in PoWi, Geschichte, Erdkunde oder Gesellschaftslehre entlang von Schulbüchern oder immer wieder neu kopierten Arbeitsblättern unterrichtet wurde, muss jetzt umgedacht werden. Für „die Römer“ bleiben dann halt nur sechs Wochen, und die Hauptstädte Europas werden nicht auswendig gelernt und abgefragt. Das „exemplarische Lernen“ wird so oft gepredigt wie in der Praxis ignoriert.

Wissen, Verstehen, Strukturieren und Beurteilen

Besinnen wir uns auf die von Wolfgang Hilligen, einem der Mitreformer  der schulischen politischen Bildung vor 50 Jahren, formulierte Leitfrage: „Welche Ergebnisse und  Erkenntnisse der (…) Wissenschaften sind von so allgemeiner Bedeutung für das Leben, dass sie jeder lernen muss, wenn er befähigt werden soll, sein Dasein in einer Zeit weltweiten Wandels zu bewältigen?“ (1)

Gerade in unübersichtlichen Zeiten und Verhältnissen geht es um Wissen, Verstehen, Strukturieren und Beurteilen, um die Entwicklung einer persönlichen, begründeten Meinung und Haltung. Analyse-, Urteils-, Methoden- und Handlungskompetenz nennt man das heute in den Bildungsstandards:

  • Auf der Grundlage der UN-Charta können sich auch junge Menschen eine Meinung bilden, ob Putin das Recht hatte, die Ukraine anzugreifen und ob die Ukraine das Recht hat, sich zu verteidigen. Die Alternative zur UN-Charta wäre das Recht des Stärkeren, der skrupellos genug ist, um hemmungslos jede Art von Gewalt einzusetzen, die ihm zur Verfügung steht. Das Völkerrecht ist unteilbar: Es gilt für Putins Krieg gegen die Ukraine, für die USA, die ihren Krieg gegen den Irak mit Lügen begründet hatte (2), und für einen möglichen Angriff Chinas auf Taiwan.
  • Oft sind es die Schülerinnen und Schüler selbst, die ihre Lehrkräfte mit der Frage konfrontieren, wer etwas gegen die Klimaerwärmung tut, ob das, was getan wird, genug ist und wie es mit anderen Maßnahmen zusammenpasst.
  • Und auch bei der Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen im Frühjahr 2022 haben Schülerinnen und Schüler das Recht, Fragen zu stellen und Wissen einzufordern: Wer war für diesen Schritt und wer dagegen? Bevor im Herbst wieder alles von vorne losgeht, können Schülerinnen und Schüler Politikerinnen und Politiker befragen, Immunologen, Eltern und Kinderärzte, können daraus Schlüsse ziehen und Ergebnisse publizieren. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, zu lernen, wie Naturwissenschaften vor gefährlichen Krankheiten schützen können, wie durch politische Entscheidungen dafür gesorgt werden kann, dass möglichst alle Menschen Zugang zu bestmöglicher medizinischer Versorgung bekommen können und warum das in der Welt aber oft nicht so ist.

Kontroversität in der politischen Bildung

In all diesen  Krisenfragen gilt das „Kontroversitätsgebot“, eine der zentralen Verfahrensregeln der politischen Bildung. Was in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft umstritten ist, soll auch im Unterricht kontrovers bearbeitet werden:

  • Die Sorgen, dass Waffenlieferungen die Gefahr eines Dritten Weltkriegs erhöhen, müssen genauso zu Wort kommen, wie die Forderung, der Ukraine für ihren gerechten Verteidigungskrieg alles zu liefern, was sie braucht.
  • Die Argumente für eine „Schuldenbremse“ müssen genauso auf den Tisch wie die Forderung, das Geld für die Krisenbewältigung durch Steuererhöhungen für Reiche und große Erben aufzubringen und zum unter Helmut Kohl (CDU) geltenden Spitzensteuersatz von 56 %, der heute zwischen 42 und 45 % liegt, zurückzukehren.
  • Vor allem geht es darum zu lernen, dass es in der Politik selten um „Schwarz oder Weiß“, „Richtig oder Falsch“ geht, sondern meistens um „Besser oder Schlechter“. Ethische, politische und ökonomische Argumente sind abzuwägen und Schule muss die Kompetenz für eine an begründeten Argumenten und Fakten orientierte Meinungsbildung vermitteln.

Allerdings kannte der Beutelsbacher Konsens von 1976 noch nicht die Echokammern des Internets. Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger gab es schon immer, doch die Möglichkeiten, ihre Spinnereien zu verbreiten, haben sich vervielfacht. Verleumdungen, geschwurbelte Phantasien oder Lügen sind keine „kontroversen Stimmen“, sondern das Übungsfeld für kritische Recherche und begründetes Entlarven, um Kinder und Jugendliche in der Schule gegen verdrehte Welterklärungen, Hass und Hetze zu stärken.

Auch wer zusätzliche Angst schürt, statt die tatsächlichen Risiken, die ernst genug sind, differenziert und belegt zu präsentieren, fällt durch das Raster des Kontroversitätsgebots. Es geht darum, Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, das, was um sie herum geschieht, wenigstens elementar zu verstehen und in ihrer Bedeutung für die Zukunft einschätzen und abwägen zu können.

„Kontroversität“ heißt nicht, dass die kontroversen Positionen immer nebeneinander bestehen können. Für Schülerinnen und Schüler, die den Zuckergehalt von Erfrischungsgetränken und die gesundheitlichen Folgen recherchiert haben, werden die Behauptungen der Ernährungsindustrie nicht mehr meinungslos und gleichberechtigt neben ernährungswissenschaftlichen Studien stehen. Und auch Lehrerinnen und Lehrer sind nicht zur „Neutralität“ verpflichtet, sondern dem Grundgesetz, der Wahrheit und der Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler. Und deshalb dürfen und müssen sie Projekte fördern, die – in diesem Beispiel – aufzeigen, welche Lebensmittel der Gesundheit  der Schülerinnen und Schüler schaden, warum und wie sie trotzdem erzeugt und beworben werden und welche Alternativen es gibt.

An dieser Stelle möchte ich auch einen Blick auf die Demokratiepädagogik werfen, die in den letzten Jahren von Stiftungen, Verbänden und der Kultusministerkonferenz nachhaltig gefördert wurde. Wolfgang Edelstein, einer ihrer Mitbegründer, beschreibt ihre Grundsätze so: „Schule soll einen Erfahrungsraum bieten, wo im Kleinen, jedoch durchaus als Ernstfall, geübt wird, was hernach im Großen die zivilgesellschaftliche Praxis bestimmen soll.“ (3)

Guter Wille trifft auf Macht

In der Tat ist es richtig und wichtig, Kinder und Jugendliche in der Schule zu befähigen, Interessen zu formulieren, sie zu vertreten und auf möglichst herrschaftsfrei vereinbarten Wegen durchzusetzen oder Kompromisse auszuhandeln, die möglichst alle Beteiligten als zufriedenstellend ansehen und anwenden können. Allerdings halte ich es für eher naiv, dass pädagogisch begründete Prozesse „im Großen die zivilgesellschaftliche Praxis bestimmen“ können. Denn überall dort, wo sich Menschen zivilgesellschaftlich engagieren, in Stadtteilinitiativen, bei Fridays for Future, MeToo, Amnesty International, Terre des Hommes oder auch in Gewerkschaften stößt guter Wille auf Macht, die nicht freiwillig aufgegeben wird. Deshalb müssen Schülerinnen und Schüler die Mechanismen des Rechtsstaats kennen und wissen, wie Menschen durch Wahlen, Gewaltenteilung und kritische und unabhängige Medien vor Willkür geschützt werden. Sie müssen aber auch lernen, dass diese hohen Ansprüche der Verfassung immer wieder gefährdet sind und wie man sich dagegen wehren kann.

Zu wenig Zeit für die politische Bildung

Politische Bildung muss Neugier auf Politik wecken, der Aufklärung verpflichtet sein und zum Einmischen einladen. Deshalb darf man über die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und den hohen Anteil des fachfremd erteilten Unterrichts nicht schweigen. Viele Lehrkräfte, die in den Bildungsgängen der Haupt- und Realschule an Integrierten und Kooperativen Gesamtschulen das Fach Politik und Wirtschaft oder den Lernbereich Gesellschaftslehre unterrichten, wurden dafür nicht ausgebildet. An Gymnasien und Gymnasialzweigen ist der Anteil geringer, aber ebenfalls zu hoch (HLZ S. 9). Der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften für PoWi, Geschichte, Erdkunde oder Gesellschaftslehre sagt aber auch etwas über den Stellenwert der politischen Bildung. Bei der Frage, mit welcher Fächerkombination die im nächsten Schuljahr frei werdende Stelle besetzt werden soll, zieht PoWi gegenüber Mathematik oder Englisch oft genug den Kürzeren.

Aber auch fachlich und didaktisch ausgebildete Lehrkräfte brauchen Fortbildung, Nachmittagshäppchen nach fünf oder sechs Stunden Unterricht sind ein Alibi. Das Fach „Politik und Wirtschaft“ wurde von der CDU als Kombinationsfach eingeführt, ohne zusätzliche Stunden und ohne Konzept zur Fort- und Weiterbildung im Bereich Ökonomie: Symbolpolitik pur! Profitiert haben hier vor allem die Interessenverbände der Wirtschaft, die die Schulen mit Unterrichtsmaterial überschwemmen. Die Fächer Geschichte, PoWi und Erdkunde werden oft weiterhin in Stundenhäppchen additiv unterrichtet, ohne sinnstiftendes Orientierungs- und Zusammenhangswissen und ohne eine Integration dieser Fächer in Projekte exemplarischen Lernens.

Liebe Kollegin, lieber Kollege! Kurzfristig hilft Ihnen nur eines: Wenn Sie sich sorgen, dass Sie selbst viel zu wenig davon verstehen, was zur Sprache kommen muss, sollten Sie auch nicht so tun, als wüssten Sie es. Sie müssen nicht so tun, als könnten Sie erklären, warum der Bundestag in den letzten Wahlperioden immer größer geworden ist. Und wenn Sie zwar mit kritischen Augen seit Jahren mitverfolgen, wie in Polen die Unabhängigkeit von Gerichten durch die rechte Regierungsmehrheit ausgehebelt wurde, aber nicht genau wissen, wie bei uns jemand Bundesverfassungsrichter wird, dann sagen Sie es den Jugendlichen und machen Sie sich gemeinsam mit ihnen auf die Suche. Und es spricht auch nichts dagegen, dass Sie anfangen, unser Schulsystem selbst und seine sozialen Auslesemechanismen, die inzwischen selbst Konservative nicht mehr bestreiten, zum Gegenstand von Unterricht zu machen. Auch Bildungspolitik ist Politik.

Achim Albrecht


Achim Albrecht, langjähriger Pädagogischer Leiter der Offenen Schule Waldau in Kassel, war unter anderem stellvertretender Bundesvorsitzender der GEW und Lehrbeauftragter für die Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Kassel.

(1) Wolfgang Hilligen: Zur Didaktik des politischen Unterrichts I. Leske-Verlag. Opladen 1975, S. 23
(2) https://www.lpb-bw.de/irak-krieg; https://www.spiegel.de/thema/irak_krieg/
(3) https://www.ganztaegig-lernen.de/demokratiepaedagogik-der-ganztagsschule