Politische Bildung stärken

Empfehlungen des 16. Kinder- und Jugendberichts

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung erschien im November 2020 unter dem Titel „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“. Bei der öffentlichen Anhörung des zuständigen Bundestagsausschusses am 17. Mai 2021 mahnten alle Sachverständigen, dass der politischen Bildung von Kindern und Jugendlichen deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss und dass sich diese an der demokratischen Ordnung und ihren Werten orientieren muss. Der 16. Kinder- und Jugendbericht attestiert der Schule Defizite in allen Bereichen politischer Bildung. Die Dringlichkeit wirksamer und nachhaltiger Maßnahmen leiten die Autorinnen und Autoren aus den gesellschaftlichen „Megatrends“ und daraus resultierenden Krisen ab, die die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen. Als zentrale Problemfelder nennt der Bericht die Ambivalenzen der Globalisierung, Klimawandel und Naturzerstörung, die Bewältigung der Pandemie, Flucht und Migration, die Ambivalenzen der Digitalisierung, die Folgen des demografischen Wandels, Aufrüstung und Kriegsgefahr sowie ausgewählte Krisen und Herausforderungen der Demokratie.

Schulische und außerschulische politische Bildung

Zur Stärkung der politischen Bildung in der Schule empfiehlt die Kommission u. a. die Sicherstellung einer Mindeststundenzahl von zwei Wochenstunden in allen weiterführenden Schularten durchgängig von Klasse 5 bis 10 sowie eine Revision der inhaltlichen Bildungsvorgaben. Auch in der Grundschule müsse die politische Bildung im Sachunterricht einen festen und adäquaten Platz haben. Schulentwicklung müsse als demokratische Schulentwicklung vorangetrieben werden und die Partizipationsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern in der Schule und im Unterricht sollten deutlich ausgeweitet werden. Das bedeute auch, dass die Vertretungen der Schülerinnen und Schüler in ihrem Mandat nicht nur auf schulpolitische Fragen begrenzt sein sollten.

Politische Bildung ist nach einhelliger Meinung der Sachverständigen mehr als ein Unterrichtsfach, sondern „sowohl fachspezifisches, fächerübergreifendes und projektorientiertes Lernen als auch Unterrichtsprinzip und Aufgabe demokratischer Schulkultur und -entwicklung“ (S.533). Zur Umsetzung dieser Aufgaben müssten daher curriculare Freiräume und deutlich mehr zeitliche und personelle Ressourcen bereitgestellt werden. Sinnvollerweise sollten schulische Koordinationsstellen für politische Bildung eingerichtet werden, deren Tätigkeit durch Anrechnungsstunden aufgewertet werden müsse. Schulen müssten sich zudem außerschulischen  Trägern politischer Bildung öffnen, sie an Konsultations- und Abstimmungsprozessen beteiligen, „damit Bildungsangebote zusammen entwickelt werden können und institutionell gut anschlussfähig sind“ (S.547).

Insbesondere an die Gewerkschaften richtet sich die Forderung, Orte für die außerschulische politische Bildung zu schaffen oder zu erhalten. Die Schließung gewerkschaftlicher Bildungsstätten in Oberursel, Niederpöcking, Lage-Hörste und zuletzt 2017 der Jugendbildungsstätte Konradshöhe in Berlin hat etablierte, nachhaltige Strukturen zerstört. Ähnliche Signale gibt es seit einigen Jahren auch aus der Hans-Böckler-Stiftung, die sich aus der Förderung von politischer Bildung teilweise zurückgezogen hat.

Gewerkschaftliche Bildungsarbeit dürfe sich nicht nur auf die größeren Betriebe und Unternehmen beschränken, in denen Gewerkschaften eine gewisse Organisations- und Gestaltungsmacht entfalten, sondern müsse auch Jugendliche in nicht-tariflich gebundenen Kleinbetrieben, befristet Beschäftigte, junge Erwachsene ohne qualifizierten Schulabschluss und Ausbildung sowie Jugendliche in Übergangssystemen erreichen:

„Die gewerkschaftliche und arbeitsweltbezogene politische Jugendbildung sollte sich stärker auf diese Zielgruppen ausrichten und entsprechende didaktische Zugänge entwickeln.“ (S.73)

Gute Arbeitsbedingungen sollten nicht nur das Ziel gewerkschaftlicher Bildungsarbeit sein, sondern sollte es auch für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von gewerkschaftlichen und gewerkschaftsnahen Bildungsträgern geben.

Europa in der politischen Bildung

Der durchaus widerspruchsvoll verlaufende Prozess der europäischen Integration gerät nach entsprechenden Untersuchungen im Rahmen des Kinder- und Jugendberichts zunehmend aus dem Blick der politischen Bildung (1). Die Autorinnen und Autoren verweisen deshalb auch auf die EU-Jugendstrategie 2019-2027 und deren Anliegen, „die inklusive demokratische Teilhabe von allen jungen Menschen an der Gesellschaft und am demokratischen Prozess zu fördern und zu unterstützen“ und „junge Menschen, Jugendorganisationen und andere Anbieter von Jugendarbeit in die Entwicklung, Umsetzung und Evaluierung der die jungen Menschen betreffenden politischen Maßnahmen (…) aktiv einzubeziehen“ (S.548). Diese Empfehlungen würden in vielen Schulen und Kommunen bislang nur wenig sichtbar oder lediglich auf Bereiche des sozialen Engagements reduziert:

„Wirksame Formen der Jugendvertretungen sollten gemäß der EU-Jugendstrategie auf allen Ebenen von der Kommune bis zur Europapolitik umgesetzt und junge Menschen dazu befähigt werden, ihre Rechte auf Teilhabe und Selbstorganisation auch durch geeignete politische Bildungsangebote wahrzunehmen.“ (S.548)

Zentrales Ziel einer „europäischen Bürgerschaftsbildung“ (European Union Citizenship Education) müsse eine „politische Europakompetenz“ sein, die tatsächliche oder vermeintliche Mängel der europäischen Integration nicht ignoriert, sondern befähigt, „europäische Entscheidungswege und Politikfelder verstehen und kritisch beurteilen zu lernen (…) und europäische Bezüge im Alltag zu reflektieren“ (S.511).

Auch wenn die meisten jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren nach der 18. Shell-Jugendstudie mit der EU eher positive Werte wie Freizügigkeit (94 %), kulturelle Vielfalt (83 %) oder Frieden (80 %) verbinden, ist Europa auch für die Autorinnen und Autoren des Kinder- und Jugendberichts keineswegs nur eine Erfolgsgeschichte:

„Der Integrationsprozess ist ebenso mit Ausgrenzung, Desintegration und Befürchtungen eines Abbaus von Demokratie und sozialer Sicherung verbunden. Die Identifikation mit der europäischen Integrationsidee kann sich daher nicht auf einen affirmativen Europapatriotismus beschränken. Vielmehr muss es Aufgabe europapolitischer Bildung und des Globalen Lernens sein, die politischen, ökonomischen und soziostrukturellen Voraussetzungen für gelungene oder verhinderte Partizipation, Nachhaltigkeit, globale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle Menschen im Globalen Norden als auch im Globalen Süden zu klären. Politische Bildung in transnationaler Perspektive befähigt ausgehend von diesen kritischen Analysen zur demokratischen Mitgestaltung, aber auch zu Widerständigkeit gegen Menschenrechtsverletzungen, globale Ungleichheit und die Ausbeutung von Menschen und Naturressourcen.“ (S.514)

Werner Röhrig


Werner Röhrig, Lehrer für Deutsch und Geschichte, war langjähriger Leiter der Außenstelle Weilburg des Hessischen Instituts für Leh­rerfortbildung und bis zu seiner Pensionierung Schulamtsdirektor beim Staatlichen Schulamt in Weilburg. Ehrenamtlich engagiert er sich für die Themen Demokratie, Toleranz und Europabildung im Schulforum Limburg-Weilburg (http://www.schulforum-limburg-weilburg.de).

(1) T. Hippe u.a. (2020): Politische Bildung und Demokratie-Lernen in der Sekundarstufe. Curriculumanalyse für den Bereich Demokratiebildung für Kinder und Jugendliche in den Fächern der sozialwissenschaftlichen Bildung. Expertise im Rahmen des 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung.