Vor 75 Jahren: Ein Massaker der SS

Filmtipp von Bernd Landsiedel

Argyris Sfountouris ist drei Jahre und neun Monate alt, als die LKW in sein Dorf fahren. Es ist der 10. Juni 1944. Am nächsten Tag sind 218 Dorfbewohner tot, Argyris und seine drei älteren Schwestern haben Mutter und Vater verloren. Für Distomo, zwischen Athen und Delphi gelegen, beginnen schwarze Jahre, überschattet von Trauer. Mit sechs Jahren wird Argyris von seinem Großvater in ein Waisenhaus in Piräus gebracht, wo es ihm nicht gut geht. Er isst zu wenig. Im Alter von achteinhalb Jahren wendet sich sein Schicksal zum Guten. Zusammen mit Kriegswaisen aus anderen europäischen Ländern kommt er ins Kinderdorf Pestalozzi im schweizerischen Trogen. Hier geht es ihm besser, er besucht die Kantonsschule und später die angesehene ETH Zürich, wo er Mathematik, Kern- und Astrophysik studiert. Als Physiklehrer in Zürich schreibt er Gedichte und Essays, übersetzt griechische Literatur ins Deutsche, publiziert häufig in renommierten Zeitschriften wie der Neuen Zürcher Zeitung. Nach dem Putsch der Obristen 1967 ist Argyris aktiv im Widerstand gegen die Militärdiktatur. Nach 1980 für mehrere Jahre als Entwicklungshelfer tätig, stellt sich ihm in den Jahren 1989 und 1990 eine neue Aufgabe: Der Kampf für eine Entschädigung der Opfer des SS-Massakers in Distomo. Diese Entschädigung durch den deutschen Staat blieb bis heute aus.

Während der Eröffnung der documenta 14 habe ich Argyris persönlich in Kassel kennengelernt. Am Abend vor der Eröffnung wurde der Dokumentarfilm „Ein Lied für Argyris“ im Philipp-Scheidemann-Haus gezeigt, bei der Eröffnung am Jahrestag des Massakers, dem 10. Juni 2017, fand eine Gedenkveranstaltung auf dem Kasseler Opernplatz statt. Argyris ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, bescheiden, authentisch und voller Wärme. Als in der IGS Guxhagen Thementage durchgeführt werden sollten, im Jahrgang 10 zum Thema „Faschismus und Krieg“, wusste ich sofort, dass ich den Film von Stefan Haupt einsetzen wollte.

Den Briefen der Schülerinnen und Schüler an die Bewohner von Distomo und an Argyris gemeinsam ist das Entsetzen darüber, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind. Viele sprechen den Betroffenen ihr Beileid aus und wünschen ihnen ein gutes Leben für die Zukunft. Aus allen spricht der Wunsch, dass sich solche Ereignisse nie wiederholen mögen. In vielen Briefen wird ausgedrückt, wie bewegt die Jugendlichen von dem Film waren und wie gut sie sich in die gezeigten Menschen hineinversetzen konnten. Die Perspektive kleiner Kinder, deren Eltern getötet werden. Die Zärtlichkeit der Hinterbliebenen in ihrer gemeinsamen Trauer. Die jüngste Schwester von Argyris, die ihr ganzes Leben in Heimen verbracht hat, weil sie am 10. Juni 1944 traumatisiert wurde.

In dem Film wirft Argyris tiefgreifende Fragen auf. Seine emotionale Erschütterung, als er als junger Mann zum ersten Mal die Missa Solemnis in einer Kirche hörte. Wie konnte Beethoven so ergreifende Musik komponieren und Menschen aus dem gleichen Volk begehen nicht einmal 150 Jahre später so furchtbare Verbrechen? Diese „Nähe von Gut und Böse“. Kann man mit dem Erlebten „abschließen“, „es verarbeiten“, wie die Psychologen raten? Argyris nimmt die Welt nicht so hin, wie sie ist. Bis heute fragt er: „Wer ist dafür verantwortlich? Und muss das immer so weiter gehen?“ Wir können uns nur Farid (Name geändert) anschließen, einem aus Afghanistan geflüchteten Schüler unserer Schule: „Distomo soll unvergessen bleiben!“
Bernd Landsiedel

Der Film „Ein Lied für Argyris“ wurde 2006 in der Regie von Stefan Haupt gedreht und ist über alle Versandplattformen als DVD zu erwerben.