Wer hat, dem wird gegeben...

Politische Bildung in hessischen Schulen

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Der Koalitionsvertrag von CDU und Grünen für die Wahlperiode von 2018 bis 2023 enthält die Absichtserklärung, „das Fach Politik und Wirtschaft zu stärken“. Die Ankündigung, dass PoWi „ebenso wie das Fach Geschichte“ in der gymnasialen Oberstufe „nicht mehr abwählbar sein soll“, wird in der vorliegenden Novelle zum Hessischen Schulgesetz umgesetzt (HLZ S.7). Die Änderung in § 34 sieht vor, dass PoWi über die gesamte Qualifikationsphase belegt werden muss. Im zweiten Jahr kann die Belegpflicht ersatzweise durch das Fach Erdkunde erfüllt werden, wenn es durchgehend seit der Einführungsphase belegt wurde. Das Kerncurriculum Erdkunde in der gymnasialen Oberstufe wird derzeit überarbeitet. „Um den fachübergreifenden Aspekt zum Fach Politik und Wirtschaft zu gewährleisten“, sollen die „Anteile der politischen Bildung ergänzt“ werden. Die Novellierung des Kerncurriculums für das Fach PoWi beschränkt sich auf die Stärkung des Themas Flucht und Vertreibung und die Aufnahme der – nicht unumstrittenen - Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance.

Fachfremd erteilter Unterricht bleibt ein Problem

Am Ende der ersten schwarz-grünen Koalition wurde die Stundentafel für die Fächer der politischen Bildung für die Klassen 5 bis 9 im Bildungsgang Hauptschule um insgesamt eine Stunde erhöht, an Integrierten Gesamtschulen für die Klassen 5 bis 10 um zwei Stunden. Die Ankündigung der zweiten schwarz-grünen Koalition, einen „durchgängigen Politikunterricht auf allen weiterführenden Schulen“ sicherzustellen, wartet weiter auf ihre Umsetzung. Auch die „Mindeststundenzahl von zwei Wochenstunden in allen weiterführenden Schularten durchgängig von Klasse 5 bis 10“, wie sie im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung gefordert wird (HLZ S.6f.), steht noch in den Sternen.
Das „Ranking Politische Bildung“, das regelmäßig von der Universität Bielefeld erhoben wird, berechnet den Anteil der Stunden für das jeweilige Leitfach der politischen Bildung an der Gesamtunterrichtszeit in der Sekundarstufe I (1). Bei den „nichtgymnasialen Schulformen“ liegt Hessen mit einem Anteil von 2,8 % „im oberen Mittelfeld“ der Bundesländer. Schlusslicht ist Bayern mit 1,1%. Deutlich besser schneidet Hessen bei den Gymnasien ab, wo Politik und Wirtschaft immerhin 4,4 % des Gesamtunterrichts einnimmt, Bayern liegt auch bei den Gymnasien mit 0,5 % auf dem letzten Platz.

In keinem Lernbereich ist der Anteil des fachfremd erteilten Unterrichts so groß wie in den Fächern der politischen Bildung. Die letzten vom Hessischen Kultusministerium (HKM) vorgelegten Zahlen stammen aus dem Schuljahr 2018/2019 (2): Danach lag der Anteil der Stunden, in denen das Fach PoWi fachfremd unterrichtet wurde, in den meisten Schulamtsbezirken bei über 20 % mit Spitzenwerten im Bereich Lahn-Dill/Limburg-Weilburg (30,8 %) und Schwalm-Eder/Waldeck-Frankenberg (32,9 %). Dabei sieht das HKM PoWi-Unterricht durch Lehrkräfte, die für Geschichte oder Erdkunde ausgebildet sind, nicht als „fachfremd“ an. Auch an der Tatsache, dass der fachfremd erteilte Unterricht in den Bildungsgängen der Haupt- und Realschule deutlich höher liegt als im gymnasialen Bildungsgang, dürfte sich seit der Bilanz von Achim Albrecht in der HLZ 3/2017 auf der Grundlage der Zahlen von 2015 nicht viel geändert haben. Er lag damals „bei über der Hälfte der Unterrichtsstunden, in einzelnen Jahrgängen bei 70 und über 80 Prozent“. (3)

„Wer hat, dem wird gegeben“: Auch wenn die hessischen Schulen bei der unter diesem Titel erschienenen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht erfasst wurden (4), so kann man doch mit Bezug auf das „Ranking Politische Bildung“ und den Anteil fachfremden Unterrichts auch für Hessen von einer „elitären Schlagseite des Politikunterrichts“ sprechen: „Es sind vor allem Schüler_innen mit hohem kulturellem Kapital an Gymnasien, denen in der Regel auch quantitativ und qualitativ die hochwertigeren Angebote politischer Bildung und Demokratiebildung zur Verfügung gestellt werden. Es kann kaum verwundern, dass ihr politisches Interesse und ihre Selbstwirksamkeit höher sind, sie mehr Partizipationsbereitschaft zeigen und Beteiligung realisieren. Ihr Vertrauen zur Demokratie, deren Grundwerten und Institutionen ist höher und ihre Einstellungen zu sozialen Gruppen fallen positiver aus als die aller anderen Schüler_innen. Abgehängt sind fast immer die Schüler_innen der Berufs- und Berufsfachschulen.“ (5)

Politische Bildung darf jedoch kein elitäres Angebot sein und muss auch die jungen Menschen erreichen, „die von Disparitäten betroffen sind und deren geringere Teilhabemöglichkeiten sich in den politischen Einstellungen widerzuspiegeln scheinen“ (6).


Harald Freiling


(1) Mahir Gökbudak u.a.: 4. Ranking Politische Bildung. Politische Bildung in der Sekundarstufe I und in der Berufsschule im Bundesländervergleich. Universität Bielefeld, Didaktik der Sozialwissenschaften Working Papers No.12/2021
(2) Antwort auf die Anfrage des Landtagsabgeordneten Christoph Degen (SPD), DS 20/942 vom 25.2.2020
(3) Achim Albrecht: Politische Bildung auf Sparflamme, HLZ 3/2017
(4) Sabine Achour, Susanne Wagner: Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen. Berlin 2019, S.176 Download
(5) ebenda, S.188
(6) ebenda, S.189