Wer schützt die Verfassung?

Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des NSU-Komplexes in Hessen

HLZ 5/2019: 70 Jahre Grundgesetz

Das Grundgesetz beschreibt die wesentlichen Werte der Bundesrepublik, insbesondere die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und die Rechtsstaatlichkeit. Doch wer schützt diese Verfassung? In der Bundesrepublik gibt es insgesamt 17 Behörden, die den „Verfassungsschutz“ im Namen tragen: das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die 16 Landesämter. Doch inwiefern tragen diese tatsächlich zum Schutz der Verfassung bei?

Ihr gesetzlicher Auftrag ist es, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ sowie den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu schützen. Zahlreiche Skandale haben jedoch dazu beigetragen, dass es erhebliche Zweifel daran gibt, dass die Verfassungsschutzbehörden willens und in der Lage sind, diese Funktion zu erfüllen. Erinnert sei nur an das erste NPD-Verbotsverfahren, das aufgrund der steuernden Funktion von V-Leuten des Verfassungsschutzes (1) in der Partei scheiterte, an die Aktion „Celler Loch“, bei der das Landesamt für Verfassungsschutz Niedersachsen zur Vortäuschung einer Straftat durch die RAF ein Loch in ein Gefängnis sprengte, oder an die jahrzehntelange rechtswidrige Überwachung des Bürgerrechtlers Rolf Gössner (2).

Der größte Skandal um den Verfassungsschutz in jüngster Zeit war der „NSU–Komplex“. 2011 wurde bekannt, dass die Neonazigruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund“ mehr als zehn Jahre im Untergrund agierte und in dieser Zeit zehn Menschen ermordete und drei Sprengstoffanschläge und fünfzehn Raubüberfälle beging. Im Umfeld des NSU setzten die verschiedenen Verfassungsschutzämter mindestens 40 V-Leute ein, die vereinzelt auch Informationen über die Untergetauchten lieferten. Diese Informationen wurden seinerzeit jedoch nicht an die Polizei weitergegeben. Das Bekanntwerden des NSU löste eine umfangreiche Vernichtung von relevanten Akten beim BfV aus.

Die Ermordung von Halit Yozgat in Kassel

Von besonderer Brisanz waren die Aktivitäten des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (HLfV). Als Halit Yozgat 2006 in Kassel in seinem Internetcafé vom NSU ermordet wurde, war der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme am Tatort anwesend. Temme hatte als „V-Mann-Führer“ die Aufgabe, sich mit V-Leuten zu treffen und deren Informationen aus der Szene entgegenzunehmen. Unter seinen V-Leuten war auch ein Neonazi aus Kassel, vertretungsweise hatte er auch mit anderen Neonazis zu tun. Die Anwesenheit Temmes am Tatort löste schon damals Furore aus, obwohl der rechtsradikale Hintergrund des Mordanschlages noch nicht öffentlich bekannt war, denn die Polizei führte Temme als Tatverdächtigen. Das HLfV weigerte sich jedoch vehement aus Gründen des „Quellenschutzes“, eine Aussagegenehmigung für die von Temme geführten V-Leute zu erteilen. Der Streit zwischen Polizei und HLfV währte über Monate und blockierte die Ermittlungen. Schlussendlich entschied der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier, der Polizei die Vernehmung der V-Leute nicht zu gestatten. Damit stellte er den Quellenschutz über notwendige Ermittlungen in einem Mordfall, der sich als Teil einer bundesweiten Mordserie erwies. Die Ermittlungen gegen Temme wurden wenig später eingestellt.

Als 2011 bekannt wurde, dass der Mord an Halit Yozgat Teil einer rechtsterroristischen Mordserie war und bundesweit Ungereimtheiten über das Handeln des Verfassungsschutzes bekannt wurden, richteten der Bundestag und sieben Landtage Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex ein. Auch im Hessischen Landtag wurde nach zähem Ringen ein Untersuchungsausschuss mit den Stimmen der Linksfraktion und der SPD (und ohne Stimmen der CDU, Grünen und FDP) eingesetzt (3). Er war der bisher umfangreichste in der Geschichte des Hessischen Landtages. In vier Jahren wurden über 2.000 Aktenordner aus verschiedenen Behörden gesichtet und über 100 Zeuginnen und Zeugen vernommen. Kernanliegen des Ausschusses war herauszufinden, welche Rolle das HLfV und dessen Mitarbeiter Temme im Jahr 2006 spielten, welchen Einfluss das Innenministerium auf die Ermittlungen genommen hat, ob der Polizei bei den Ermittlungen Fehler unterlaufen waren und ob den Sicherheitsbehörden Informationen über den NSU oder mögliche Unterstützerinnen und Unterstützer vorgelegen hatten.

Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag

Schon der Umstand, dass das HLfV erstmals durch alle Landtagsfraktionen unter die Lupe genommen und Akten in großem Umfang einer Prüfung unterzogen wurden, dass sich Beamte des HLfV für ihr Handeln rechtfertigen mussten und eine öffentliche Debatte über Geheimdienste ausgelöst wurde, ist als Erfolg des Ausschusses zu werten.
Die Beratungen bestätigten, dass die Polizei im April 2006 Temme als Tatverdächtigen führte und seine Diensträume im HLfV und seine Wohnung durchsucht hatte. Bei den Vernehmungen sagte Temme aus, dass er nicht dienstlich im Internetcafé gewesen sei, von dem Mord nichts mitbekommen habe und die Mordserie dienstlich nicht thematisiert worden sei. Tatsächlich hatte Temme wie alle anderen V-Mann-Führer rund zwei Wochen vor dem Mord einen dienstlichen Auftrag erhalten, sich wegen der Mordserie bei ihren V-Leuten umzuhören. Hintergrund des Auftrages war eine informelle Bitte des Bundeskriminalamts (BKA) an das HLfV um Unterstützung hinsichtlich der Ermittlungen. Dieser Auftrag wurde nicht nur von Temme, sondern von allen Beamten im HLfV der Polizei bewusst verschwiegen. Relevant ist auch ein damals von der Polizei abgehörtes Gespräch zwischen Temme und einem Vorgesetzten, der Unverständnis für die Anwesenheit Temmes am Tatort zeigte: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“

Gegenüber einer Kollegin behauptete Temme damals wahrheitswidrig, er kenne das Internetcafé nicht. Ein Account, den er im Internetcafé nutzte und über den man seine Anwesenheit am Tatort hätte nachweisen können, wurde von Temme gelöscht. Darüber hinaus legen die im Ausschuss minutiös nachvollzogenen Abläufe am Tattag nahe, dass Temme zum genauen Tatzeitpunkt im Internetcafé gewesen ist und den Mord auch mitbekommen haben muss.

Mehrere Ermittler in der Mordkommission gingen davon aus, dass Temme etwas mit dem Mord zu tun hatte, und waren überrascht davon, dass Temme von seinen Vorgesetzten unterstützt wurde. Bei Gesprächen der Polizei mit Vorgesetzten von Temme im HLfV präsentierte die Polizei zahlreiche weitere Verfehlungen Temmes, die durch die Ermittlungen ans Licht gekommen waren. So wurde bei der Durchsuchung der Wohnung von Temme unter anderem umfangreiche Literatur mit NS-Bezug sichergestellt, wofür Temme als Zeuge im Ausschuss keine vernünftige Erklärung hatte. Doch die Vorgesetzten im LfV schützten Temme weiterhin und wollten ihn trotz der Verfehlungen und trotz der gegen ihn laufenden Mordermittlungen wieder ganz normal in den Dienst aufnehmen. Nur eine Presseveröffentlichung konnte im letzten Moment die Weiterbeschäftigung Temmes beim HLfV verhindern. Erst jetzt erfuhren der Landtag und die Parlamentarische Kontrollkommission von dem Mordverdacht gegen den Verfassungsschutzbeamten. Im Landtag erklärte auch Innenminister Bouffier, er habe von dem Tatverdacht gegen Temme ebenfalls erst aus der Zeitung erfahren. Allerdings tauchten im Ausschuss Dokumente auf, die das Gegenteil belegen. Unter anderem war er in das Disziplinarverfahren gegen Temme involviert, das zu dem Zweck geführt wurde, ihn bei vollen Bezügen von der Arbeit freizustellen, nicht aber dienstliche Verfehlungen zu verfolgen.

Der Ausschuss brachte viele weitere haarsträubende Details über die Arbeitsweise und die Abläufe im HLfV ans Licht. Selbst hochrangige Mitarbeiter des HLfV sprachen von einer „verkrusteten Behörde“. Informationen verstaubten eher im persönlichen Tresor der Mitarbeiter, statt dass sie an Kollegen oder Ermittlungsbehörden weitergegeben wurden. Der damalige Direktor des HLfV Irrgang bezeichnete die Polizei als „Konkurrenzunternehmen“. Informationen von V-Leuten wurden in „Treffberichten“ niedergelegt und waren mitunter fehlerhaft. Vor allem aber wurde die rechte Szene grob verharmlost und falsch dargestellt.

Die rechte Szene wurde grob verharmlost

Kurz vor Ende des Untersuchungsausschusses wurde bekannt, dass ab Mitte 2012 im HLfV aufgrund einer Weisung des damaligen Ministers alle Akten im Bereich Rechtsextremismus ab 1992 auf Bezüge zum NSU überprüft wurden. Von dieser aufwändigen internen Überprüfung und ihren Ergebnissen wurde das Parlament zu keinem Zeitpunkt proaktiv unterrichtet, stattdessen wurde der Abschlussbericht für 120 Jahre als Verschlusssache geheim eingestuft. Auf Antrag der Linksfraktion wurden Teile des Berichts herabgestuft, sodass die Ergebnisse der Überprüfung nun öffentlich bekannt sind. Aus dem Bericht geht hervor, dass Akten unvollständig gewesen sind, sodass auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass konkrete Hinweise auf den NSU vorgelegen haben. Auch im Ausschuss selber fielen immer wieder unvollständige Dokumente auf. In einem Fall wurden Akten einer relevanten Neonazi-Aktivistin gelöscht, ohne dass es dafür einen nachvollziehbaren Grund gab. 2012 wurden Mitarbeiter des HLfV angewiesen, den ehemaligen V-Mann von Temme aufzusuchen, aber darüber keine Unterlagen anzufertigen. Dokumentiert sind mehrere Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz sowie rechtsterroristische Aktivitäten, denen nicht nachgegangen worden war.

Eine Behörde, die ihre schützende Hand über einen mordverdächtigen Mitarbeiter hält und die Ermittlungen behindert, die für ein Strafverfahren wesentliche Informationen zurückhält, die Neonazis dafür bezahlt, Informationen zu liefern, und dadurch die rechte Szene finanziell unterstützt und Hinweisen auf rechten Terror nicht nachgeht, ist nicht Schutz, sondern Gefahr für die Verfassung. Ein solcher Geheimdienst passt nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat.

Milena Hildebrand

Milena Hildebrand ist Juristin und wissenschaftliche Referentin der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag und war bis 2018 für den NSU-Untersuchungsausschuss zuständig.

(1) Vertrauensleute (V-Leute) sind zivile Personen, die gegen Bezahlung Informationen aus einem bestimmten Extremismus-Spektrum an den Geheimdienst liefern, ohne selber Beamte für den Dienst zu sein. Wiederholt stellte sich später heraus, dass die V-Leute selbst dem jeweiligen Spektrum zuzurechnen, also beispielsweise Neonazis waren.
(2) Rolf Gössner hält das Hauptreferat bei der gemeinsamen Fachtagung von GEW und lea zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai 2019 (HLZ S.9).
(3) Der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag sowie die abweichenden Berichte von SPD, Linken und FDP umfassen 1.300 Seiten und sind im Internet verfügbar: http://starweb.hessen.de/cache/DRS/19/1/06611.pdf