Lebenswelt-, Arbeitswelt- und Berufsorientierung

Positionsbestimmung der GEW Hessen

Beschluss des Landesvorstands 2/2015

 

Beschluss des Landesvorstands | 2-2105

Die Konzepte der hessischen Landesregierung  zum Übergangssystem sind von den Positionen der Interessenverbänden der Arbeitgeber geprägt.  Nachweisen lässt sich der ideologische Gehalt dieser Positionen anhand der im Auftrag der CDU-Landesregierung unter Koch entwickelten „OloV-Strategie: Diese fußt auf der Philosophie des auf das Individuum zentrierten Employability-Konzepts: Danach ist es wesentliches Ziel des Berufsorientierungsprozesses in der Schule, dass die Schülerinnen und Schüler befähigt werden, die eigenen Fähigkeiten, Einstellungen und Eigenschaften in Übereinstimmung mit den Anforderungen des gewünschten beruflichen Umfelds zu bringen. Aufgabe aller am Berufsorientierungsprozess beteiligten Akteure ist es, in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess Veränderungen in den Anforderungen zu erkennen und nachzuvollziehen.

OloV = „Hessenweite Strategie zur Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang Schule – Beruf“ www.olov-hessen.de

Demgegenüber – so die Sichtweise der GEW- müssen die allgemeinen humanen und zivilisatorischen Wertvorstellungen Bezugspunkt für Bildungsziele bleiben. Sie dürfen nicht durch das Leitbild eines „homo oeconomicus“ ersetzt werden. Erziehung zur Mündigkeit muss vor allem die Erziehung zur Demokratiefähigkeit einschließen - und zwar in allen Bereichen: also auch am Arbeitsplatz und in der Wirtschaft. Dem Begriff einer ausschließlich „berufsorientierten“ Bildung setzen wir den der arbeitsweltorientierten Bildung entgegen, deren Ziel nicht darin besteht, ausschließlich eine Integrations- und Anpassungsfunktion an das bestehende Wirtschaftssystem wahr zu nehmen. Abzulehnen ist die Orientierung an kurzfristigen oder einseitigen Interessen des Arbeits- oder Kapitalmarktes. Das Wirtschaftssystem hat eine dienende Funktion, es ist kein Selbstzweck. 

Vor diesem Hintergrund stellt  die GEW Hessen ihre Position zur Gestaltung des Übergangssystems für den Bereich der Sekundarstufe I dar. Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass ohne eine grundlegende  Strukturveränderung der Sekundarstufe hin zu weniger äußerer Differenzierung der Schulformen, wie sie in allen Bundesländern außerhalb Hessens derzeit im Gange ist, sich nur relativ allgemeine Anforderungen an die Gestaltung des Übergangssystems in Hessen stellen lassen, die an allen Schulen einheitlich umgesetzt werden können.  Es kann sich dabei nur um Eckpunkte handeln, da die GEW dem Erhalt der Zersplitterung der Bildungsgänge der Sekundarstufe I  das Ziel der „Einen Schule für alle entgegensetzt.“

An den vorliegenden Eckpunkten lässt sich jedoch die Qualität von Einzelmaßnahme und Veränderungen messen und beurteilen. Wer wissen möchte, wie ein besseres Übergangssystem konkret aussehen kann, sei auf die Konzepte der Stadtstaaten Hamburg (siehe Anlage) und Bremen verwiesen, deren Übergangssysteme in Deutschland derzeit als die am weitesten entwickelten eingeschätzt werden.  

Zur Situation 

Bereits im Jahre 2006 wurden in Deutschland mehr als 5 Milliarden Euro für die Finanzierung des Übergangssystems ausgegeben, das bei Fachleuten als ineffizient gilt. Professor Eckart Severing vom Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) konstatierte 2009: „Das Übergangssystem ist der expansivste Teil des Systems der beruflichen Bildung und zugleich sein am schlechtesten organisierter und ineffektivster Teil“.

Bezogen auf Hessen stellt die GEW fest, dass ein landesweites Konzept für die konkrete Umsetzung an den Schulen fehlt.

Das nach wie vor mehr schlecht als recht organisierte und funktionierende Übergangssystem, das ideologisch einseitig ausgerichtete und in der Schulpraxis nur in Grenzen brauchbare (von der CDU –Landesregierung unter Koch ausschließlich mit den Wirtschaftsverbänden entwickelte) „OloV-Konzept“ und die absehbare Fortsetzung dieser Politik in Hessen in den nächsten fünf Jahren veranlassen die GEW Hessen, inhaltliche Alternativen  und Forderungen für diesen Bereich  aufzustellen.

Das OloV-Programm beansprucht, eine „Strategie“ vorzugeben, letztendlich kann sich jeder herauspicken, was ihm passt oder es auch lassen. Dieses Manko haben die Verantwortlichen im Kultusministerium offensichtlich auch erkannt, und deshalb im Dezember 2012  einen Erlass zur „Ausgestaltung der Berufs- und Studienorientierung“ verfasst, der zumindest einige Maßnahmen für alle Sekundarschulen verbindlich festgelegt. Zu den Ressourcen, den Qualifikationsanforderungen an das Personal von Schulen und Trägern und der konkreten Umsetzung im Unterricht findet sich allerdings wenig. Das kann auch kaum präzisiert werden, da die verschiedenen Bildungsgänge im Bereich der Sekundarstufe 1 über sehr unterschiedliche Stundentafeln, Curricula und organisatorische Rahmenbedingungen verfügen. Die Anteile dessen, was die Schulen,  die Eltern, die Jugendlichen selbst, die Träger der Jugendhilfe, die Agentur für Arbeit und die Wirtschaft jeweils zu leisten haben sind nicht klar und eindeutig genug definiert. Die Aufgaben der verschiedenen Akteure sind  oft nur unzureichend aufeinander abgestimmt.  Jede Schule hat  je nach Schulform, nach Schulträger,  nach Unterstützern aus der Jugendhilfe, nach Engagement und Fachkompetenz der Lehrkräfte, je nach Kontakten zu Betrieben usw. ein anderes Konzept für diesen Bereich.

Leider  werden diese skizzierten grundsätzlichen Mängel insbesondere von maßgeblichen Akteuren aus der Wirtschaft und ihren Verbänden häufig schlicht ignoriert und stattdessen die Lehrkräfte und vor allem die Jugendlichen selbst für die Probleme im Übergang Schule-Beruf verantwortlich gemacht. Das Schlagwort von der „mangelnden Ausbildungsfähigkeit“, für die hauptsächlich die unzureichende schulische Bildung verantwortlich gemacht wird, ist ein Kampfbegriff der Unternehmerseite. Er ist nicht wissenschaftlich operationalisierbar und verschleiert den tatsächlichen Hintergrund des Fachkräftemangels: zu wenig Ausbildungsplätze insgesamt, zu wenig attraktive Ausbildungsplätze. Es stigmatisiert die Jugendlichen, die an den Anforderungen des Ausbildungssystems scheitern, ohne dem Mangel abzuhelfen. Eine Verbesserung und personelle Verstetigung der Unterstützungssysteme für die allgemeinen Schulen, eine Ausbildungsplatzgarantie für alle ausbildungswilligen Jugendlichen und Modelle zur Eingliederung von Jugendlichen mit Problemen, wie z.B. die Produktionsschulen, sind notwendig um die Situation des Übergangs deutlich verbessern und um, die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss drastisch zu verringern.

Die Ziele 

Der schulischen Vorbereitung junger Menschen auf die Arbeitswelt und der Unterstützung bei ihrer persönlichen Lebensplanung kommt eine besondere Bedeutung zu. Schülerinnen und Schüler sollen zu kritischer Urteilsbildung befähigt werden, um in einer von Interessensgegensätzen geleiteten Gesellschaft eigene Standpunkte finden und vertreten zu können. Die GEW hält – in Übereinstimmung mit dem DGB - an einem Bildungsanspruch fest, der die Welt als gestaltbar vermittelt und junge Menschen zu kritischer Partizipation und Mitbestimmung befähigt und ermuntert.

Ziel ist es, Heranwachsende rechtzeitig so zu fördern, dass sie im Anschluss an die Schule eine sinnvolle Berufs- und Lebensperspektive finden können, sei es eine berufliche Ausbildung und/oder ein Studium.  Es geht um die gesamte Bildungsbiographie der einzelnen Jugendlichen, um ihre Persönlichkeitsentwicklung, um die Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Lebensbedingungen. Lernprobleme müssen rechtzeitig erkannt und geeignete Unterstützung gewährt werden. Nicht die Bildungsunwilligkeit ist das Problem, sondern die im gegliederten Schulsystem angelegte Selektion und die damit verbundene Stigmatisierung der Betroffenen.

Benötigt wird ein durchgängiges und professionell gestaltetes Beratungs- und Begleitsystem, das in allgemeinbildenden Schulen einsetzt und bis zum erfolgreichen Übergang in berufliche Ausbildung und Berufstätigkeit individuelle Unterstützung gewährleistet.  Beteiligt sind: Lehrkräfte und Sozialpädagogen aus den allgemeinen und den beruflichen Schulen, Schulsozialarbeit, Vereine zur Unterstützung der Arbeit im Übergang Schule-Beruf, Träger der beruflichen Bildung, Betriebe, Bundesagentur für Arbeit und die kommunale Jugendhilfe.

Der Prozess der Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen darf nicht auf Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt beschränkt werden. Lebenswelt-, Arbeitswelt- und Berufsorientierung sind Querschnittsaufgaben aller allgemeinbildenden Bildungsgänge. Sie sollen wesentlich dazu beitragen, jungen Menschen Orientierung zu geben, damit sie eine Berufswahl unter Berücksichtigung ihrer Stärken, Schwächen und Interessen treffen können.

Für die Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen und die Gestaltung des Übergangs ist die Zusammenarbeit von allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen notwendig. Die Kooperation muss „auf Augenhöhe“ stattfinden und strukturell abgesichert werden. Für die Ausweitung der Aufgaben der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen müssen zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartnern (Betrieben, Arbeitsagentur, Jugendberufshilfe, Schulsozialarbeit, freien Trägern) ist auf verbindliche und verlässliche Regelungen angewiesen, die zur Unterstützung der Schulen dienen. Die GEW bekräftigt ihre Forderung, dass an jeder Schule sozialpädagogische Kompetenz vorhanden sein muss. Eine intensive Kooperation im Rahmen eines regionalen Netzwerkes verlangt, dass die beteiligten Akteure dazu wie folgt in die Lage versetzt werden: 

  • Die erforderlichen Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden. Hierzu müssen mindestens die für das Übergangssystem verwendeten Mittel in die Finanzierung der erforderlichen Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen einfließen.
  • Die Akteure erhalten geeignete Instrumente zur Förderung dieser Prozesse in die Hand. Eine prozessbegleitende Fortbildung sollte die beteiligten Fachkräfte auf allen hierarchischen Ebenen und in allen Bereichen einbeziehen.
  • Die Aufgaben der verschiedenen Akteure vor Ort sind sorgfältig zu definieren und zu vereinbaren und die Rahmenbedingungen für die erforderliche Kooperation zu gewährleisten. (Die Jugendberufsagenturen in Hamburg sind hier möglicherweise eine geeignetes Modell für eine gelungene Kooperation – das muss geprüft werden.)
  • Im Prozess der Berufsorientierung soll eine geschlechtsspezifische Einengung vermieden werden.  Junge Frauen und Männer sollen ermutigt werden in der Arbeitswelt andere Wege zu gehen und Studien-, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten wahrzunehmen, die das geschlechtsspezifische Spektrum überwinden.
  • Die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung muss sich in der Beratungs- und Unterrichtspraxis widerspiegeln. 

Lebensweltorientierung 

Lebensweltorientierung muss bereits ab der Grundschule Bestandteil des Unterrichts sein. Dabei ist es - in einer hochgradig ökonomisch durchdrungenen Welt -  von großer Bedeutung, dass die Heranwachsenden auf die Bewältigung der von Ökonomie, Ökologie, Politik und gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen geprägten Lebenssituationen in Haushalt, Konsum, Arbeitswelt und Gesellschaft vorbereitet werden. Dabei muss es zum einen darum gehen, sie für ihre Rolle im Gefüge von Wirtschaft und Gesellschaft zu sensibilisieren indem ihnen auch eine kritische Distanz zu Rollen und Rollenklischees vermittelt wird. Zum anderen sind ihnen Wege und Räume für selbstgestaltete und selbstverantwortete Lebensperspektiven in Familie, Wirtschaft und Gesellschaft aufzuzeigen bzw. sie selbst solche entwickeln zu lassen. Folgerichtig stehen bei einer derart verstandenen lebensweltlichen Bildung die Interessen der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund und nicht jene von Interessenvertretungen, Unternehmen, Bildungsinstitutionen etc. 

Arbeitsweltorientierung 

Die materielle Basis der Gesellschaft, Arbeit und Produktion, Wirtschaft und Technik muss von Beginn an in den Unterricht einbezogen werden. Als zentraler gesellschaftlicher Bereich ist sie für alle Schülerinnen und Schüler bedeutsam.

Wir gehen von einem umfassenden Arbeitsbegriff aus, der keinesfalls nur Erwerbsarbeit umfasst. Auch Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege von kranken Menschen, Menschen mit Behinderungen und alten Menschen sowie Arbeit in ehrenamtlichen Funktionen gehören dazu. Die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung dieser Tätigkeiten, die Ursachen für die Bezahlung der einen Sorte von Arbeit und die fehlende Bezahlung der anderen Arbeit, sowie Visionen einer anderen Verteilung und Bezahlung von Arbeit gehören in diesen Bereich.

Bereits möglichst früh sollen Schülerinnen und Schüler einen altersangemessenen Einblick in Arbeitsabläufe erhalten und lernen, Arbeit wertzuschätzen. Viele Schulprojekte für Kinder und Jugendliche lassen sich so gestalten, dass die Auseinandersetzung mit Arbeit und Produktion, Wirtschaft und Technik zum Bestandteil des Projekts wird. So können Schülerinnen und Schüler in Arbeitslehre und den unterschiedlichsten Unterrichtsfächern ein grundlegendes Verständnis von Arbeitsorganisation gewinnen und arbeitsbezogene Qualifikationsanforderungen unter Einschluss sozial angemessener Verhaltensweisen kennen lernen. Das grundlegende Verständnis von Arbeitsorganisation beinhaltet die Diskussion der verschiedenen Interessen in der Arbeitswelt (Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit) und die verschiedenen Möglichkeiten der Durchsetzungen von Interessen (Betriebsverfassungsgesetz, Politik usw.). 

Ein handlungsorientierter Ansatz führt zum besseren Verstehen wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge. Die Erarbeitung von berufsorientiertem Wissen in konkreten betrieblichen Arbeitssituationen ermöglicht außerdem, das soziale Gefüge mit seinen Hierarchiestrukturen besser zu verstehen. Betriebspraktika in Wochenblocks, aber auch Unterricht, der über ein halbes oder ganzes Jahr einen Tag pro Woche für ein Praktikum in Werkstatt oder Betrieb vorsieht, können Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, ihre Lernprozesse zu beschleunigen, sich vertiefte Erkenntnisse über eigene berufliche Zielsetzungen zu erarbeiten und die Schule motivierter zu nutzen. Betriebliche Simulationen wie Schülerinnen- und Schülerfirmen oder die Einbeziehung von Teilproduktionen innerhalb der Schule für den Bedarf der Schule oder der Schulgemeinde können praktisches und theoretisches Verständnis von Produktions- und Konsumptionsprozessen  der Schülerinnen und Schüler ebenfalls in hohem Maße fördern.  

Berufsorientierung 

Trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen und Blickwinkeln hat sich im Hinblick auf das Verständnis von Berufsorientierung die Umschreibung der wissenschaftlichen Begleitung des Programms »Schule-Wirtschaft-Arbeitsleben« (vgl. Brüggemann/Rahn 2013, S. 13; BIBB 2013, S. 254) weitgehend durchgesetzt. Danach ist Berufsorientierung zu verstehen als »lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarf und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite« (vgl. Butz 2008, S. 50). Angebote der Berufsorientierung sollen so gestaltet sein, dass dieser beidseitige Prozess gefördert und unterstützt wird (vgl. BIBB 2013, S. 254). Hierzu soll Berufsorientierung über den Charakter einseitigen Informierens über die Arbeits- und Berufswelt hinausgehen und Erfahrungen und Reflexionen der Jugendlichen im Arbeits- und Berufsalltag ermöglichen. Die Jugendlichen sollen lernen, ihre eigenen Interessen und Neigungen zu erkennen, um Orientierungen begründen und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu können. Nicht die nahtlose Einpassung in die gegebene Arbeitsmarkstruktur und die Anpassung an Marktnischen  im Ausbildungssektor ist das Ziel, sondern die Schule ist gefordert, Raum zur Entwicklung individueller Vorstellungen zu bieten und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit der Schülerin oder des Schülers zu fördern. 

Untersuchungen haben gezeigt, dass die soziale Herkunft von Schülern bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihre Selbstwahrnehmung prägt. Durchaus erreichbare Entwicklungsziele werden bei Kindern aus schwierigem sozialen Umfeld häufig als Möglichkeiten ausgeblendet. „Ererbte“ Chancenungleichheit darf nicht hingenommen werden. Wir wissen, dass Schule einen nicht geringen Anteil an der Verfestigung dieses sozialen Phänomens hat. Infolgedessen engen sich durch einseitiges Engagement und Interesse die Entwicklungspotenziale ein und verfestigen sich bereits sehr früh. Die Abschiebung in  sog. „begabungsgerechte“ Bildungsgänge wie Hauptschule, Förderschule, den „praxisorientierten Bildungsgang der Mittelstufenschule“ „SchuB“ und die Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung stehen am Ende dieses Prozesses und schränken die Chancen dieser Jugendlichen ein. Schule darf diesen Sachverhalt nicht einfach hinnehmen, da sie damit die soziale Segregation unterstützt.

Allerdings kann die Schule nicht alleine die ganze Verantwortung übernehmen: Berufsorientierung beginnt sehr früh mit der altersgemäßen Einordnung von Begriffen aus der Berufswelt. Aus der Literatur- und Medienwelt, über tägliche Wahrnehmungen berufstypischer Tätigkeiten, über beiläufig wahrgenommene Äußerungen von Erwachsenen werden Vorstellungen geprägt. Berufsorientierung ist damit ein Prozess, an dem die Eltern und das soziale Umfeld der Schülerinnen und Schüler einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben.

In diesem Entwicklungsprozess hat die allgemein bildende Schule die Aufgabe, die vielfältigen Einflüsse und Erfahrungen systematisch aufzugreifen und alters- und entwicklungsgemäß zu bearbeiten. Angesichts der geschlechtstypischen Bildungsverläufe in allen Bildungsbereichen (Allgemein- und Berufsbildung) hat Schule darauf hinzuwirken, dass das Individuum, das einzelne Mädchen, der einzelne Junge, im Mittelpunkt steht. Lehrkräfte sind gefordert, Rollenklischees aufzubrechen, die die Jugendlichen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten einengen und zur Fortführung der Geschlechterhierarchie im Arbeitsleben beitragen. Die Schule muss Berufsorientierung deshalb als Entwicklungsaufgabe gestalten, die einen biografischen und differenzierten Zugang ermöglicht. Dabei muss auf die Einbeziehung der Eltern, als nach wie vor wichtigen Orientierungspunkt für die Jugendlichen, großer Wert gelegt werden. 

Integrationsfach für diese genannten Bereiche ist in der Sekundarstufe  das Fach Arbeitslehre, das für alle Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe 1 angeboten werden soll. 

Das Fach Arbeitslehre 

Zur besonderen Bedeutung dieses Faches: In kaum einem Fach spiegelt sich der „Roll-Back“, den Hessen im Bereich der Bildungspolitik seit Mitte der achtziger Jahre erlebt hat, so wieder wie im Fach Arbeitslehre:  Zunächst hieß das Fach „Polytechnik/Arbeitslehre “ und wurde bis 1976 in Hessen nur an Gesamtschulen angeboten. Seit 1976 wurde das Fach „Arbeitslehre“ ein fester Bestandteil der Stundentafel der Sekundarstufe I an allen Schulformen. Der emanzipatorische Ansatz dieses Fachs war den Konservativen in Hessen schon immer ein Dorn im Auge: Mit Einführung von spezifischen Stundentafeln für die verschiedenen Bildungsgänge nach dem Machtantritt der CDU 1987 wurde auch für das Fach „Arbeitslehre“ die gemeinsame Stundentafel für alle Schulformen abgeschafft. Zwischen 1991 und 1999 – unter der SPD-Grünen-Koalition – gab es dann wieder eine Phase mit einer gemeinsamen Stundentafel für das Fach „Arbeitslehre“ in der Mittelstufe, und das Fach wurde in allen Schulformen angeboten. 1999 hat die CDU-FDP-Landesregierung „Arbeitslehre“ an Gymnasien vollständig abgeschafft und in den Integrierten Gesamtschulen und Realschulen deutlich reduziert, an den Haupt- und Förderschulen den Stundenanteil hingegen ausgeweitet.  In der Folge wurde auch die Lehrerbildung für dieses Fach an den Hochschulen abgebaut. Die zwei Arbeitslehre-Professuren in Frankfurt wurden ersatzlos gestrichen, lediglich in Kassel und neuerdings wieder in Gießen ist die Ausbildung zur Arbeitslehre-Lehrkraft möglich.

Im Kerncurriculum des hessischen Kultusministeriums von 2010 wird das Fach Arbeitslehre für die Realschulen, Hauptschulen und Gesamtschulen übereinstimmend  als „Integrationsfach“ (S.11) bezeichnet. Der Begriff - so das Kultusministerium- solle  verdeutlichen, dass das Fach Arbeitslehre ein Fach mit interdisziplinären Bezügen aus Technik, Ökonomie, Arbeitswissenschaft und Sozioökologie sei, dessen Aufgabe es sei Bezüge zu anderen Fächern herzustellen. Die Autoren gehen von einer Definition von Arbeit aus, die diese „als lebensstrukturierendes und gesellschaftskonstituierendes Element zwischen Selbstverwirklichung und Existenzsicherung“ beschreibt. Als Ziel des Faches benennen sie „die Vermittlung von Kompetenzen, die die Jugendlichen befähigen, aktiv und bewusst an der kritisch-konstruktiven Gestaltung der Arbeits- und Lebenswelt teilzunehmen und ein berufliches Selbstkonzept zu entwickeln“. Sicherlich ein hoher Anspruch, dem einerseits zuzustimmen ist, der andererseits durch die massive Reduzierung der Fachstunden im Bildungsgang Realschule und an den Gesamtschulen kaum umzusetzen ist.

Für die GEW  ist und bleibt das Fach Arbeitslehre ein wichtiges „Integrationsfach“, wo  das gesamte Feld der Berufsorientierung und Auseinandersetzung mit Wirtschaft, der Arbeits- und Lebenswelt sowohl in der Theorie aber auch in praktischen Ansätzen zentral verortet ist. Es erfüllt eine Koordinierungsfunktion der Inhalte der Berufs- Arbeits- und Lebensweltorientierung für alle Fächer sowie auch für Projektangebote, Betriebspraktika und ähnliches.

Deshalb fordert die GEW

  • Arbeitslehre als Fachangebot für alle Schülerinnen und Schüler in allen Schulformen der Sekundarstufe 1!
  • Ein Arbeitslehrecurriculum, was von einem emanzipatorischen Begriff arbeitsorientierter Bildung geprägt ist, deren Ziel nicht darin besteht, ausschließlich eine Integrations- und Anpassungsfunktion an das bestehende Wirtschaftssystem wahr zu nehmen. Ein Grundverständnis der Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Arbeit und Wirtschaft, die kritische Auseinandersetzung mit Wirtschaft und ihren Mechanismen, die Kenntnis der Interessengegensätze in der Arbeitswelt und die Förderung der eignen Urteilsfähigkeit sollen die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, selbstständig Entscheidungen über ihren Weg in Bildung, Ausbildung und Beruf zu treffen.
  • Aus- bzw. Aufbau der Lehrerbildung im Fach „Arbeitslehre“ an allen Standorten der Lehrerbildung in Hessen! 

Eckpunkte für die Organisation der „erweiterten Berufsorientierung“ ab der achten Jahrgangsstufe 

Ausgehend von einer allgemeinbildenden Schule, die 10 Schuljahre von allen Schülerinnen und Schüler besucht wird, fordert die GEW: 

  • Jahrgang 8 – Berufsfelder kennen lernen, Potenziale erkennen

Das Fach Arbeitslehre wird  in allen Schulformen angeboten. Im Bereich des Wahlpflichtunterrichts sollen verstärkt praxisbezogene Angebote zur Vorbereitung und Ergänzung des Prozesses der Berufsvorbereitung, Lebensplanung, Studien- und Arbeitsweltorientierung erfolgen. Im Curriculum des Deutschunterrichts finden sich Bewerbungsschreiben und Lebenslauf.

Jedem Schüler wird ein Ansprechpartner zugeordnet, der ihn bis zum Ende seiner Ausbildungszeit und bei Bedarf ein halbes Jahr darüber hinaus zur Beratung zur Verfügung steht. Dieser Berater kommt in der Regel aus dem Bereich der Jugend- und Berufshilfe und ist eine Sozialpädagogin/ein Sozialpädagoge, beschäftigt beim Schulträger. Er legt gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern deren Anschlussziele fest und unterstützt sie bei der individuellen Schullaufbahn-, Berufs- oder Studienwegplanung, bei der Suche nach Praktikumsplätzen, bei der Vorbereitung von Bewerbungsschreiben und -gesprächen. Er erstellt, wenn notwendig – ggfs. gemeinsam mit den Lehrkräften – Förderpläne, steht im Kontakt mit den Eltern und informiert diese über seine Beratungstätigkeit.

Potenzialanalysen können Schülerinnen und Schülern, den Eltern und den Lehrkräften Hinweise auf Interessen oder besondere Fähigkeiten liefern, die hilfreich im Prozess der Berufsfindung oder der Entscheidung über den weiteren Bildungsweg sein können. Die Schulen legen selbst fest, welches Verfahren für welche Schüler eingesetzt wird und suchen sich den passenden Kooperationspartner.

In Betriebsbesichtigungen und einem Betriebspraktikum können Schülerinnen und Schüler Erfahrungen an Lernorten außerhalb der Schule sammeln und mit Unterstützung der Lehrkräfte und ihrem Berater im Hinblick auf ihr Abschlussprofil auswerten. 

  • Jahrgang 9 - Praxis der Arbeitswelt erproben

Der im achten Schuljahr eingeleitete Beratungsprozess wird im 9. Schuljahr fortgesetzt, auf personelle Kontinuität ist zu achten. Entweder kann ein weiteres Blockpraktikum oder ein Praxis- oder Projekttag einmal pro Woche stattfinden, der wechselweise als Praktikum in einem Betrieb, der Schule oder an einer beruflichen Schule oder als schulisches Projekt stattfinden kann. Professionelle Bewerbungstrainings (nicht als Werbeveranstaltung von Krankenkassen u. ä.) gehören ebenso dazu wie die Wahrnehmung von Angeboten des DGB und seiner Einzelgewerkschaften zu Schulbesuchen durch Gewerkschaftsvertreter oder Betriebsräte. Es ist darauf zu achten, dass außerschulische Angebote und Veranstaltungen zur Berufs-, Schul- und Studienwahl (z.B. Berufsbildungsmessen, betriebliche Schnuppertage, Betriebsbesichtigungen, Tage der offenen Tür an Berufs- und weiterführenden Schulen) von den Schülern wahrgenommen werden.

Feste Kooperationen mit beruflichen Schulen und Betrieben sind anzustreben, ebenso soll die Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit und ihren Berufsberatern intensiviert werden. 

  • Jahrgang - 10 Entscheidungen konkretisieren, Übergänge gestalten

Der Beratungsprozess wird auch im 10. Schuljahr fortgesetzt, auf personelle Kontinuität ist zu achten. Im AL- und WP -Unterricht erfolgen schwerpunktmäßig Angebote zur Vorbereitung des Übergangs auf weiterführende allgemeine oder berufliche Schulen oder in eine Ausbildung. Wie im Jahrgang 9 so ist auch in 10 dafür zu sorgen, dass außerschulische Angebote und Veranstaltungen zur Berufs-, Schul- und Studienwahl von den Schülern wahrgenommen werden. 

In den gesamten Prozess sind die Eltern durch regelmäßig angebotene Beratungstermine und Informationsveranstaltung zusammen mit den Schülerinnen und Schülern sowie den Kooperationspartnern einzubeziehen. 

Für abschlussgefährdete Schüler sind zusätzliche Fördermaßnahmen vorzusehen. Es ist sicher zu stellen, dass kein Jugendlicher die allgemeinbildende Schule ohne einen Anschluss verlässt. 

Den Schulen werden feste Stellenzuweisungen für Lehrkräfte und Sozialpädagogen in ausreichender Höhe, orientiert an den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung gestellt, damit sie die geforderten Beratungsleistungen umsetzen können.