Schule: Wie weiter nach Corona?

Individuelle Förderung am besten in kleinen Klassen

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Schon länger beschäftigt sich auch die GEW Hessen mit der Frage, wie sich „Schule nach Corona“ verändern muss und wie die psychischen, sozialen und kognitiven Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche bewältigt werden können. Wie berichtet hatte sich der GEW-Landesvorstand in seiner Frühjahrsklausur gegen ein generelles „Corona-Jahr“ ausgesprochen. Die GEW-Landesvorsitzende Maike Wiedwald plädierte in der HLZ 5/2021 für „Zeit und Räume, die wieder soziales Lernen ermöglichen“, und gegen eine Fixierung auf Lernstoffe und tatsächliche oder vermeintliche Lerndefizite:

„Immer neue zusätzliche Schleifen zur Wiederholung und zum Nacharbeiten von Lerninhalten werden der psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen nicht einmal in Ansätzen gerecht.“

Deshalb greift aus Sicht der GEW auch das „Corona-Aufholpaket“ der Hessischen Kultusministeriums (HKM), das im Mai unter der Überschrift „Löwenstark – der BildungsKICK“ auf den Weg gebracht wurde, zu kurz. Die Mischung aus schulischen Förderkursen, individueller Lernbegleitung im Unterricht, Lerncamps und Hausaufgabenbetreuung einerseits und Angeboten zur kulturellen Bildung, zur Bewegungsförderung und zur sozialpädagogischen und psychologischen Unterstützung andererseits weise zwar „in die richtige Richtung“, sei aber mit 60 Millionen Euro in hohem Maße unterfinanziert. Tony Schwarz, stellvertretender GEW-Vorsitzender, rechnete dies vor:

„Von den 150 Millionen Euro, die aus dem Corona-Sondervermögen für die Einstellung von Vertretungskräften in der Corona-Pandemie bereitgestellt wurden, sind lediglich 40 Millionen Euro abgerufen worden.“

Das Geld nun anders zu verwenden, sei zwar besser, als es liegen zu lassen, reiche aber bei weitem nicht aus. Die schwarz-grüne Koalition selbst sieht bei jedem vierten Kind und Jugendlichen einen Förderbedarf:

„Um für diese Gruppe im kommenden Schuljahr nur zwei zusätzliche Förderstunden pro Woche in einer kleinen Lerngruppe zu ermöglichen, sind rund 1.500 Vollzeitstellen erforderlich.“

Widerspruch formulierte die GEW auch zu den Plänen des HKM, vorrangig Abiturientinnen und Abiturienten, Studierende, Stiftungen, Vereine und „engagierte Bürgerinnen und Bürger“ einzusetzen. Ein zielgerichtetes Förderangebot müsse professionell vorbereitet und koordiniert werden. Zwar sei der Arbeitsmarkt für Lehrkräfte weitgehend leergefegt, aber im Bereich der Lehrämter an Haupt- und Realschulen und Gymnasien warteten Kolleginnen und Kollegen weiter auf ein Einstellungsangebot. Außerdem erinnerte die GEW an die Zusage der Koalition, die unterrichtsbegleitende sozialpädagogische Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte auszuweiten und endlich allen UBUS-Kräften eine volle Stelle anzubieten.

Bei der Rückkehr zum Präsenzunterricht vermisst die GEW „jede Empathie“. Zwar solle die Schule zunächst Ängste auffangen und „Sicherheit und Selbstvertrauen im Hinblick auf die während des Distanzunterrichtes erlangten Kenntnisse“ vermitteln, doch die „Schonfrist“, in der „keine Klassenarbeiten und Klausuren“ geschrieben werden sollen, ist schon nach drei Tagen vorbei. Christoph Baumann vom Referat Schule und Bildung im GEW-Landesvorstand bezeichnete das als „Holzhammerpädagogik“.

„Als hätte es Corona nie gegeben“

Zur Konkretisierung und Schärfung seiner Position hatte der GEW-Landesvorstand am 19. Mai den Bildungsforscher Professor Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin zu Gast, der bei der Betrachtung der bildungspolitischen Reaktionen auf Schulschließungen und Distanzunterricht das Gefühl nicht los wird, für die Verantwortlichen „habe es Corona nicht gegeben“. Ihr ausschließlicher Maßstab seien „der ursprüngliche Lehrplan und privilegierte Kinder“ (1).

Die bisher vorliegenden empirischen Studien zu der Frage, „wie hoch die Lernlücken sind“, kommen nach Helbig zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Die meisten Studien sprechen nach dem ersten Lockdown eher von „kaum messbaren Defiziten“. Auch wenn er sich als Vertreter der empirischen Bildungsforschung „mehr Daten“ wünsche, könne man sich getrost auf die Alltagserfahrungen der Lehrkräfte verlassen. Diese bestätigten insbesondere die Verschärfung der Bildungsungerechtigkeit:

„Für die Frage, wie Kinder und Jugendliche in Bezug auf das schulische Lernen durch die Krise kommen, sind die Ressourcen der Elternhäuser ausschlaggebend. Kinder mit Akademikereltern im Homeoffice, die als Privatlehrer fungieren und die komplette digitale Aussttattung zur Verfügung stellen können, haben möglicherweise sogar mehr gelernt als ohne die Pandemie.“

Deshalb hält Helbig die Fixierung auf die „althergebrachten Stellschrauben des Systems Schule“ für falsch, mit denen „,schlechte‘ Schüler und Schülerinnen wieder in die Spur“ kommen sollen. Alle Erfahrungen zeigen, dass Lerncamps in den Ferien, Gutscheine für individuelle Nachhilfe oder das Angebot zur freiwilligen Klassenwiederholung vorrangig von Familien der Mittelschicht genutzt würden.

Helbig plädiert für Langschuljahr

Auch Helbig hält die Kritik der GEW an der Ausstattung der Förderprogramme für begründet. Während der Bund für sein „Corona-Aufholpaket“ 4 Milliarden Euro bereitstellen wolle, wolle man in den Niederlanden mit weniger als einem Viertel der Einwohnerzahl 8,5 Milliarden investieren.

Für ein generelles Corona-Jahr sei „der Zug längst abgefahren“. Das nächste Schuljahr müsse jetzt „jenseits einer Orientierung an den Defiziten“ genutzt werden, die Schülerinnen und Schüler in jeder einzelnen Klasse wieder an das schulische Lernen heranzuführen. Gerade die Schülerinnen und Schüler mit den größten Förderbedarfen könnten am besten in der Klasse und nicht durch additive Zusatzmaßnahmen gefördert werden. Im Lauf des Schuljahres könne man dann über eine Verlängerung entscheiden:

„Ein Langschuljahr würde Zeit erkaufen, um systematische Lernlücken zu entdecken, zu bearbeiten und zu schließen.“

Allerdings bleibt auch Helbig skeptisch, ob das System Schule nicht am Ende erneut auf die bekannten Instrumente des „Sitzenbleibens“ und der „Abschulung“ setzt und die Defizite „als Versagen des und der Einzelnen“ definiert.

Die altbekannten Stellschrauben

Diese Analyse deckt sich mit der Kritik der GEW an den jüngsten Entscheidungen des HKM zur Frage der Versetzung am Ende des laufenden Schuljahrs (2). Die Werbung des HKM für die „Versetzung aus pädagogischen Gründen“ ändere nichts an dem Grundsatz, dass Schülerinnen und Schüler, die zweimal hintereinander nicht versetzt werden, das Gymnasium oder die Realschule oder den entsprechenden Schulzweig einer Kooperativen Gesamtschule verlassen müssen. Und auch die Möglichkeit der „Querversetzung“ nach Klasse 5 oder 6 werde weiter als „Fördermaßnahme im Interesse der Schülerin oder des Schülers“ mit dem Ziel einer „effektiveren Gestaltung der schulischen Laufbahn“ gepriesen.

Die Landesfachgruppe Grundschule der GEW appellierte in diesem Zusammenhang dringend an die Kolleginnen und Kollegen nicht nur in der Grundschule, die pädagogischen Spielräume bei Notengebung und Versetzungsentscheidungen zu nutzen:

„Die Kinder haben viel geleistet in diesem Jahr, direkt in den Schulfächern, in der Selbstorganisation oder ganz umfassend in der Lebensbewältigung. Das alles muss in eine pädagogische Benotung einfließen. Hier sollten wir die Spielräume, die wir nach der Verordnung haben, auch nutzen.“

Förderung braucht kleine Klassen

Mitte Juni befasste sich der GEW-Landesvorstand auf einer außerordentlichen Sitzung erneut mit dem Thema „Lernrückstände“ und bekräftigte die Forderungen der GEW für ein umfassendes Förderprogramm (siehe Kasten). Um alle Schülerinnen und Schüler „nach und ohne Corona“ besser fördern und Lernlücken schließen zu können, setzt die GEW verstärkt auf die Verkleinerung der Lerngruppen:

„Wie hilfreich und effektiv kleine Klassen sind, hat sich gerade während der Wechselbeschulung unter Coronabedingungen gezeigt. Kleine Lerngruppen mit maximal 15 Schülerinnen und Schülern bringen allemal mehr als angehängte ‚Nachhilfestunden‘. Dazu brauchen wir zusätzliche, qualifizierte Lehrkräfte.“

Bei der Aufteilung und Ausgestaltung des Lernstoffs müssten Schulen und Lehrkräfte „größtmögliche Flexibilität“ haben. Die Vorschriften über die Klassenarbeiten seien so zu flexibilisieren, „dass für jede Klasse oder Lerngruppe Abweichungen, das heißt vor allem Reduzierungen, möglich sind“. Auch der Antrag des GEW-Kreisverbands Wiesbaden für ein generelles „Corona-Jahr“ stand noch einmal auf der Tagesordnung. Alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7 sollten am Ende des Schuljahres in ihrem Klassenverband in der bisherigen Jahrgangsstufe verbleiben „und so Zeit erhalten, das Curriculum zu erfüllen“. Da der Landesvorstand dies bereits im Frühjahr abgelehnt hatte, fand keine neue Abstimmung statt.

Der Landesvorstand warnte zudem vor einer vorschnellen „Entwarnung“, die Gefahr weiterer Infektionswellen bestehe weiterhin. Bei der Digitalisierung werde das fehlende Personal für die IT-Administration immer mehr zum Hemmschuh und auch bei der Belüftung der Klassenräume gebe es keine Fortschritte.

Harald Freiling

(1) Marcel Helbig: Als hätte es Corona nicht gegeben. WZ-Brief Bildung März 2021, www.wzb.eu/wzbriefbildung
(2) Schulrechtliche Regelungen zum Umgang mit Lernrückständen einzelner Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2020/2021. Leistungsbewertung, Versetzung, freiwillige Wiederholung. Erlass des Hessischen Kultusministers vom 12. Mai 2021