Das Modell des Odenwaldkreises

Klassen für den Förderschwerpunkt Lernen in Regelschulen

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

Mareike Hartig ist Förderschullehrerin und Mitglied der Schulleitung der Theodor-Litt-Schule, einer Mittelstufenschule in Michelstadt im Odenwald. In der Schulleitung ist sie für die „Abteilung Förderschule Lernen“ zuständig, die in das Schulsystem der Theodor-Litt-Schule integriert ist. Die Schülerinnen und Schüler der Förderschulklassen nehmen an allen Schulveranstaltungen teil und nutzen die schulischen Einrichtungen wie die Mensa, die Schülerbibliothek und das Infozentrum. Ebenso können sie die Angebote des pädagogischen Nachmittagsprogramms wahrnehmen. Entsprechende Förderschulklassen und Abteilungen gibt es auch in anderen Schulen des Odenwaldkreises. Mareike Hartig stellt das Konzept zur Diskussion.

Schon seit über 20 Jahren werden im Odenwaldkreis Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Bereich Lernen an Grundschulen und einigen weiterführenden Schulen in Förderschulklassen unterrichtet. Sie besuchen damit die Schule ihres Wohnortes und sind voll in das Schulleben der Regelschule integriert. Nachmittagsangebote, Schulveranstaltungen, Schulfeste und die Pausen werden schulformübergreifend gestaltet. Dies bietet allen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, dass bestehende wohnortnahe Freundschaften weiterhin gepflegt werden können, auch wenn unterschiedliche Schulformen besucht werden.

Die Klassen mit dem Förderschwerpunkt Lernen sind kleiner als die Regelschulklassen, so dass die Schülerinnen und Schüler nach individuellen Zielsetzungen gefördert werden können. Das Ziel ist in jedem Fall die Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss. In einigen Fällen gelingt dies über die Rückschulung in die Regelschule. Da der Austausch zwischen den Förderschulteams und den Lehrkräften im Regelschulbereich sehr gut ist, können Rückschulungen gut vorbereitet und begleitet werden.
Für andere Jugendliche ist der berufsorientierte Abschluss ein erster Schritt, um an einer Berufsschule im Rahmen einer Berufsausbildung den Hauptschulabschluss zu erwerben. Die Vorbereitung auf das Berufsleben bildet in den Förderschulklassen in den letzten beiden Schulbesuchsjahren den Schwerpunkt. So gelingt in den meisten Fällen, oft in Absprache mit der Agentur für Arbeit oder anderen Institutionen, ein guter Übergang in das Berufsleben. An den Schulen, die mehrere Klassen mit dem Förderschwerpunkt Lernen haben, gibt es einen intensiven Austausch innerhalb des Förderschulteams. Die regelmäßigen Koordinationstreffen führen zu einer deutlichen Entlastung der Kolleginnen und Kollegen. Absprachen können in Ruhe getroffen werden und Probleme mit einzelnen Schülerinnen und Schülern werden auf mehrere Schultern verteilt. So liegt die Verantwortung immer beim Team und nicht bei der einzelnen Lehrkraft. Die Akzeptanz der Förderschulabteilungen ist bei Kolleginnen und Kollegen in der Region sehr hoch. Auch Schülerinnen, Schüler und Elternschaft schätzen die Möglichkeiten einer wohnortnahen Beschulung im Schutzraum der Abteilung Förderschule, denn die Beschulung in der Förderschulklasse führt zur Entlastung des Kindes und wird trotzdem nicht als Aussonderung empfunden. Sie kombiniert Schutzraum und individuelles Vorgehen mit der Integration in den Schulalltag der Regelschule.

Der Odenwaldkreis gehört zu den letzten Regionen Hessens, in denen die Inklusiven Schulbündnisse (ISB) umgesetzt werden. Da die Möglichkeit, Förderschulklassen an Regelschulen zu bilden, im Hessischen Schulgesetz nicht explizit erwähnt wird, ist die Zukunft der Klassen mit dem Förderschwerpunkt Lernen ungewiss. Das Ziel der ISB ist es, inklusive Beschulung zu ermöglichen, wenn dies gewünscht wird. Was das für die Eltern heißt, die weiterhin die Aufnahme in die Förderschulklasse an der Regelschule wünschen, ist noch nicht geklärt.

Erklärtes Ziel des Staatlichen Schulamtes ist es, die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Förderschulsystemen der Region zu reduzieren. Erste Maßnahmen, die in diese Richtung weisen, sind bereits umgesetzt. Lag die Entscheidung über die Aufnahme in eine Förderschulklasse vor einigen Jahren noch in der Verantwortung der Abteilungsleitungen, wird diese Entscheidung inzwischen im Staatlichen Schulamt getroffen. Grundlage der Entscheidungen sind die förderdiagnostischen Stellungnahmen, die von den Kollegen und Kolleginnen vor Ort – neben der Unterrichtsverpflichtung und der Klassenführung – geschrieben werden. Diese werden von den Entscheidungsträgern des Staatlichen Schulamtes äußerst kritisch gelesen, um so die Qualität der Arbeit zu überprüfen. Aus Sicht vieler Abteilungsleitungen und Klassenleitungen der Förderschulklassen an Regelschulen handelt es sich hierbei um eine recht eindimensionale Überprüfung der Qualität. Wie die Qualität der individuellen Förderung im (noch mangelhaft ausgestatteten) inklusiven Setting im Vergleich zur Förderung innerhalb einer kleinen Förderschulklasse ist, wird nicht überprüft.
Aus meiner Sicht bieten die Förderschulklassen, die in Regelschulsysteme integriert sind, für die inklusive Schulentwicklung große Chancen. In den letzten Jahren hat sich die Kooperation zwischen Regel- und Förderschulbereich intensiviert, so dass für alle Schülerinnen und Schülern immer mehr Möglichkeiten des gemeinsamen Lernens ergeben. Diesen Weg fortzusetzen, wäre meines Erachtens eine gute Möglichkeit, die Balance zu halten zwischen Teilhabe und qualitativ hochwertiger individueller Förderung.

Mareike Hartig