Förderbedarf

Geistige Entwicklung Inklusiv arbeitenden Kooperationsklassen in Groß-Gerau

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

 

Foto: Gemeinsames Lernen: Das Foto entstand nicht an der Schillerschule. (Bert Butzke)

Vor fast zehn Jahren entwickelten der Kreis Groß-Gerau als Schulträger und die Schulleitungen der Schillerschule in Groß-Gerau und der Helen-Keller-Schule in Rüsselsheim die Idee, die Integration von Kindern mit dem Förderbedarf Geistige Entwicklung (GE) mit einer Kooperationsklasse der Grundschule und der Förderschule voranzutreiben. Grundlage waren im Hessischen Schulgesetz vorgesehene Kooperationsformen, „in denen das Kind Schülerin oder Schüler der Förderschule bleibt“, aber mit Kindern ohne Förderbedarf in einer gemeinsamen „Kooperationsklasse“ unterrichtet wird (§ 53 Abs.2 HSchG).

Es folgten sieben Jahre der gemeinsamen Meinungsbildung und Beschlussfassung in den Schulgremien, der Konzeptentwicklung, der Teambildung und vor allem der Schaffung der räumlichen Voraussetzungen. Das Gebäude, das der Schulträger errichtete und ausstattete, lässt sich sehen: Für zwei Kooperationsklassen stehen jeweils zwei große Klassenräume und ein kleiner Differenzierungsraum zur Verfügung. Dazu kommen ein Bewegungsraum, ein Bad- und Therapieraum und ein Snoezelen-Raum, die von beiden Kooperationsklassen gemeinsam genutzt werden. Administrativ besteht jede Kooperationsklasse eigentlich aus zwei Klassen, einer Förderschulklasse der Helen-Keller-Schule mit sechs bis acht Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und einer regulären Grundschulklasse. Beide Gruppen sind personell so versorgt, wie es den Regeln für die jeweilige Schulform entspricht: Die GE-Gruppe bringt zwei Förderschullehrerinnen und eine sozialpädagogische Fachkraft mit, die Grundschulklasse ist so versorgt wie jede andere. Dazu kommen die Teilhabeassistentinnen und aktuell ein FSJ-ler, so dass in der Regel mindestens drei, manchmal aber auch fünf Erwachsene im Team arbeiten. Sorgen macht der Leiterin der Schillerschule Christiane Mende die Größe der Gesamtklasse. Da die Kinder mit Förderbedarf als Schülerinnen und Schüler der Helen-Keller-Schule gerechnet werden, gilt für die Grundschulklasse die reguläre Obergrenze von 25 Kindern. Diese musste in den beiden Klassen, die 2017 an den Start gingen, nicht ausgeschöpft werden: „Aber wenn das einmal so sein würde, wären wir mit bis zu 32 Kindern in der Gesamtgruppe deutlich über dem, was pädagogisch und im Hinblick auf die Arbeitsbelastung verantwortbar ist.“

Die beiden Kooperationsklassen starteten im Sommer 2017 mit jeweils einer ersten Grundschulklasse mit etwa 18 Kindern und einer altersgemischten Förderschulklasse mit sechs bzw. sieben Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen. Tim Landau möchte die Erfahrungen in der Klasse, die ganz bewusst in allen Bereichen als gemeinsame Klasse geführt wird, nach fast drei Jahren nicht missen: „Ende 40 ist man in einem Alter, wo manches zur Routine wird, und ich wollte etwas Neues ausprobieren.“ Die Tätigkeit in der Kooperationsklasse habe ihm „so etwas wie einen neuen beruflichen Frühling“ beschert. Sicher war auch für ihn die Arbeit mit anderen pädagogischen Fachkräften, die immer gemeinsam in der Klasse sind, eine Umstellung. Deshalb war es für ihn wichtig, sich vor der Startphase kennenzulernen: „Wesentlich ist es, dass die Chemie stimmt.“
Die unkomplizierte und ruhige Art, in der das „multiprofessionelle Team“ aus einer Förderschullehrerin, einem Grundschullehrer und einer Sozialpädagogin in der Klasse kooperierte, sich die Bälle zuspielte und sich ergänzte, wie sie einerseits für alle Kinder zuständig waren und andererseits ihre spezifischen professionellen Kompetenzen und Erfahrungen einbrachten, war auch in der Hospitation deutlich zu spüren. Mit anderen Fachkräften zu kooperieren, empfindet Tim Landau gerade in Konfliktsituationen als sehr entlastend: „Da kann ich ohne Bedenken mit einem Kind rausgehen, um den Konflikt zu klären, und das Unterrichtsgeschehen kann durch meine Kolleginnen weiterlaufen.“ Sorgen, dass die Kinder der Grundschulklasse im „Lernstoff“ zurückbleiben, hat er nicht: „Ich war lange genug in den ganz ‚normalen‘ Klassen und sehe nicht, dass die Kinder kognitiv unterfordert sind.“ Große Vorteile sieht er bei der Förderung der sozialen Kompetenzen: „Während ich als Erwachsener anfangs etwas irritiert war, als ein Kind die eine oder andere auffällige Verhaltensweise zeigte, war bei den Grundschulkindern zu beobachten, dass es ihnen gar nicht mehr auffiel, da das Verhalten ‚normal‘ und nicht ungewöhnlich für das betreffende Kind war.“

Sarah Hog entschied sich unmittelbar nach dem Referendariat an der Helen-Keller-Schule, in der Kooperationsklasse zu arbeiten. Ungewöhnlich war für sie zunächst die „große Zahl von Kindern“, denn in der GE-Klasse hatte sie nie mehr als sechs, sieben oder acht Kinder. Ohne die Arbeit der GE-Schulen in Frage zu stellen, sieht sie die Bedeutung der Kooperationsklasse für die Entwicklung „ihrer“ Kinder: „Sie lernen von Beginn an eine sogenannte ‚Lernzeit‘ kennen, in der es darum geht, Erfahrungen zu sammeln, sich Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen anzueignen, dass es in einer Still­arbeitsphase darum geht – wie sie an den Grundschulkindern beobachten können –, sich etwas leise zu erarbeiten. Ebenso haben wir Nischen im Schulalltag gefunden, in denen wir Alltagshandlungen fördern können: Frühstück vorbereiten, Einkäufe erledigen und vieles mehr.“
Das Abgucken und Nachmachen, aber auch die Möglichkeit des Rückzugs, die Gemeinschaft mit den Kindern der Grundschulklasse, die mindestens in diesem Alter noch funktioniert, das sind für Sarah Hog eindeutige Vorteile. Deshalb sind die GE-Kinder auch in den Unterrichtsphasen der Grundschulklasse meist im selben Raum und dort mit anderen Aufgaben beschäftigt. Die Kinder arbeiten soweit möglich am selben Gegenstand und machen so viel wie möglich gemeinsam.

Die Frage, ob das Konzept der Kooperationsklasse mit dem Recht von Behinderten auf „inklusive Bildung in der Gemeinschaft, in der sie leben“, vereinbar ist, beantwortet Christiane Mende sehr bestimmt: „Ja, das ist gelebte Inklusion unter angemessenen Bedingungen. Wir weisen keine Kinder auf Grund der Schwere ihrer Behinderung ab, sondern nehmen die Kinder auf, die in Groß-Gerau wohnen.“ Mit den Schwerpunktschulen, in die Kinder von nah und fern gefahren werden, habe das nichts zu tun: „Wenn jemand mit Hinweis auf unsere Ausstattung fordern würde, Kinder aus dem ganzen Kreis aufnehmen zu müssen, sagen wir: Das ist mit uns nicht zu machen.“

Christiane Mendes große Sorge gilt der Frage, wie es für die GE-Kinder nach der vierten Klasse weiter geht. Eine weiterführende Schule, die das Konzept der Kooperationsklasse fortführt, hat sich bisher nicht gefunden. Die Einzelintegration von GE-Kindern wird definitiv schwieriger sein, denn eine durchgehende Betreuung der Lerngruppe durch mehrere Lehr- und Fachkräfte wird es dann nicht geben. Dass das Konzept der Kooperationsklasse an der Schillerschule auch nach dem ersten Durchgang, der im Schuljahr 2020/21 endet, weiter geht, steht für sie außer Frage:
„Die Zahl der Kinder mit geistigen Behinderungen steigt, auch die Nachfrage der Eltern, die sich für unser Konzept entscheiden, und unsere Erfahrungen sind so positiv, dass ich mir auch im Hinblick auf die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen keine Sorgen mache.“

Harald Freiling