Inklusion in Hessen

Beobachtungen eines Förderschullehrers an einer Grundschule

Seit über zwei Jahren arbeite ich als Förderschullehrer an einer hessischen Grundschule mit. Zuvor arbeitete ich über 25 Jahre als Lehrer an verschiedenen Förderschulen in Rheinland-Pfalz und Hessen. Die Gedanken, die ich hier äußere, sind aus meinen persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen entstanden. Sie beanspruchen keine Allgemeingültigkeit, wollen aber zu weiterem Nachdenken über das Thema anregen. Manchmal äußere ich auch Vermutungen. Dabei möchte ich mich dem Thema Inklusion aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. 

Inklusion aus der Sicht der Eltern

Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wollen Inklusion. Die Politik verspricht es ihnen ja auch. Manchmal fühlen sich die Eltern dann aber auch von der Politik und den Schulen alleine gelassen. Diese Beobachtung sagt nichts über die Motive der Eltern im Einzelfall aus, die manchmal aus ihren kulturellen Hintergründen entstehen. Die Eltern der anderen Kinder erscheinen mir eher wohlwollend oder neutral. 

In Einzelfällen beobachte ich Ängste, ob das eigene Kind denn nun noch genügend Lernstoff erhält. An der Schule, an der ich arbeite, gibt es viele Kinder mit Migrationshintergrund und aus geflüchteten Familien. Gilt der Inklusionsbegriff, den wir gerade verwenden, nicht auch für diese Kinder? Oder ist er nicht zu eng?

Inklusion aus der Sicht der Kinder

Kinder sind erst einmal offen, sie können aber auch ausgrenzen. Hier müssen Demokratieerziehung (Klassenrat) und soziales Lernen sehr ernst genommen werden. Auch der Ethikunterricht und der Religionsunterricht können hier wichtig werden. 
Ein anderer Knackpunkt: Noten bewerten, Noten bringen Kinder früh in Konkurrenz und unter Druck. Wie wollen wir zukünftig in inklusiven Klassen damit verfahren?

Die Sicht eines Förderschullehrers

Wir sind an unserer Schule zwei Förderschullehrkräfte, jeweils mit voller Stelle. Meine Kollegin hat andere Förderschwerpunkte als ich in ihrer Ausbildung studiert. 
Wir arbeiten vertrauensvoll miteinander und unterstützen uns gegenseitig, wo wir können. Ich wünsche mir mehr Zeit für Teamgespräche mit den Grundschulkolleginnen, und zwar alle Kinder betreffend, und weniger Arbeit mit Formularen.

Die Sicht der Grundschullehrkräfte

Meine Kolleginnen und Kollegen mit dem Lehramt Grundschule sind sehr engagiert. Sie sind in ihren Klassen und Kursen mit widersprüchlichen Erwartungen und großen heterogenen Spannungen konfrontiert. Sie versuchen, jedem Kind gerecht zu werden, und haben zugleich einen Lernplan zu erfüllen. Sie haben einen diagnostischen Blick auf die Lernbedarfe des einzelnen Kindes. Auch sie haben viel Arbeit mit Formularen, mit Evaluationsaufgaben und dem Auffinden und Erstellen von geeigneten Lernmaterialien für jedes Kind.

Inklusion in der Lehrerausbildung

Wenn ich mit jungen Menschen spreche, die an der Schule ihr Praktikum oder ihr Referendariat machen, habe ich den Eindruck, dass das Thema Inklusion in der ersten Phase der Lehrerausbildung zu wenig oder gar nicht behandelt wird.

Inklusion und Politik

Die Politik tut etwas für die Inklusion in Hessen, unter anderem durch die Umverteilung von Ressourcen, die ansonsten anderen Schulbudgets zugeflossen wären. Aber steht die Politik wirklich geschlossen hinter dem Ziel der Inklusion? Sollte es dafür ein Konzept geben, kommt es jedenfalls bisher nicht wirklich überzeugend an. Inklusion erfordert Geld und Überzeugungsarbeit und darf von Lehrerinnen und Lehrern nicht als übergestülpt oder als Mehrarbeit erlebt werden („Dafür bin ich nicht ausgebildet“). Da sie gleichzeitig an die Vergabe von Noten und an ein dreigliedriges Schulsystem gebunden bleibt, das separiert, bleibt die Gesamtlage der Inklusion voller Reibungen, Widerstände und Widersprüche. 

Die neue schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen beginnt damit, die Inklusion zurückzufahren. Meines Erachtens kann sich hier nur langfristig etwas verändern, durch ein landes- und bundesweit begründetes anderes Denken und Wollen für eine andere Schule, ähnlich wie beispielsweise in Finnland. Wenn es so mehr und mehr zu einem gemeinsamen Lernen käme, dann ist es unabdingbar, dass jedes Kind, auch das gute und schnell lernende, den Unterricht erhält, den es braucht.

Im Moment stehe ich denen, die wie beispielsweise die FAZ-Redaktion Inklusion schlechtreden, genauso kritisch gegenüber wie denen, die alle Kinder gleich machen möchten. Diese sind sowohl in den Universitäten als auf Inklusionstagungen zu finden, wo Inklusion zur Ideologie werden kann.

Impulse zur Veränderung sollten auch aus der Bürgerschaft kommen, um Leistung und menschliche Vielfalt gleichberechtigt zu würdigen und neben den Kulturtechniken auch musische, soziale, praktische oder sportliche Intelligenz wertzuschätzen. 

Hier wäre der Ausgangspunkt für einen weiteren Aufsatz über den erweiterten Intelligenzbegriff von Howard Gardner, um den Primat von Bildung gegen PISA-Kompetenzen und die wirtschaftlichen Erwägungen von Bertelsmann und Digitalindustrie zu verteidigen. Aber das wäre ein neues Thema...

Martin Hören, Rüsselsheim

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