Kinder wollen gemeinsam lernen

Eine Förderschule wird zur inklusiven Grundschule

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

Die Antonius von Padua Schule in Fulda gibt es bereits seit 1905 als Förderschule in privater Trägerschaft der St. Antonius gGmbH der Caritas. Sie ist seit den 1950er Jahren als Ersatzschule staatlich anerkannt und machte sich dann als Förderschule auf den Weg zur inklusiven Grundschule. Seit 2014 ist sie eine staatlich anerkannte inklusive Grundschule und Förderschule mit den Schwerpunkten „Lernen“ und „geistige Entwicklung“. Seither wird die ehemalige Grundstufe der Förderschule von 20 Kindern mit dem Förderbedarf „geistige Entwicklung“ und 40 Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf besucht. Jahrgangsübergreifend werden die 60 Kinder in einem Raum von vier Grundschullehrkräften und zwei Förderschullehrkräften in ihrem Lernen begleitet. Nach Abschluss der Grundschulzeit wechseln die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auf weiterführende Schulen; die Kinder mit Förderbedarf können an der Schule verbleiben. Eine Fortführung des Unterrichtsmodells in der Sekundarstufe I wird von den Eltern gewünscht. Die zuständigen Genehmigungsbehörden sehen allerdings derzeit keine Möglichkeit zur Umsetzung dieses Vorhabens.

Niemand stört gerne

Ein Blick in die Antonius von Padua Schule öffnet überraschende Perspektiven: Wer den Grundschulbereich betritt, steht in einem großen, farbenfrohen Zentralbereich, der nahtlos in vier Lernräume übergeht. Schülerinnen und Schüler hocken in Zweiergruppen auf couchartigen Ledermöbeln und üben mithilfe kleiner Plastikboxen Kopfrechnen. Es herrscht ein reges Treiben, aber man hört nur ein angenehmes Gemurmel. Die Ruhe: Das ist die zweite Überraschung. Keiner schreit herum, keiner rennt herum. Trotz des offenen Rahmens herrscht Disziplin. Wie geht das? Dazu muss man nur auf sich selbst achten: Wer die Räumlichkeiten betritt, senkt automatisch seinen Pegel. Niemand stört gerne. Natürlich muss jedes Kind zunächst entdecken, dass es für den Gesamtlärm mitverantwortlich ist, und ohne klare Ansagen geht das nicht. Aber die Lehrkraft stellt sich nicht mit gewölbter Brust vor die Kinder und ruft lautstark zur Ruhe. Sie spricht die Kinder leise mit dem Namen an. So entwickeln die Kinder allmählich Selbstkontrolle, zumal sie die Ruhe selbst genießen: Mathe im Tumult fällt eben schwer. Doch Totenstille ist ebenfalls nicht erwünscht; die Kinder sollen schließlich mit- und voneinander lernen.

Nach einer Viertelstunde schlägt ein Lehrer leise auf einen Gong. Alle huschen in ihre Lernräume. Sie hocken sich auf u-förmig angeordnete Bänkchen vor der Tafel: 15 Kinder auf vier Quadratmetern, die Lehrerin mittendrin. Sie fragt die Kinder, wie es weitergeht, und die wissen es: Hefte schnappen und Mathebuch, Gruppenarbeit steht an. Zwei, drei Dinge werden noch besprochen, dann zerstreut sich die Meute wieder.

Etwa sechs-, siebenmal täglich gibt es ein solches Lerngruppentreffen, und meist dauert es nur wenige Minuten. Von außen betrachtet sieht es gerade jetzt wie Schule aus, doch das täuscht. Es handelt sich mehr um Lagebesprechungen als um Wissensvermittlung. Zwar werden dabei auch mal neue Themen eingeführt oder die Schüler präsentieren ihre Ergebnisse vor der Gruppe, doch die Kinder sind viel zu unterschiedlich, als dass Lehrkräfte frontal vor ihnen stehen und ihr Wissen gleichmäßig über sie ausgießen könnten.

Flexibilität ist oberstes Schulprinzip. Denn das größte Problem von Regelschulen ist es, permanent den Gleichschritt des Lernens aufrechterhalten zu müssen, obwohl die Kinder immens unterschiedlich sind. Gebannt starren alle auf den Durchschnitt und diejenigen, deren Lerngeschwindigkeit sich diesseits oder jenseits des Durchschnitts befindet, zahlen den Preis. Davon hat sich unsere Modellschule verabschiedet. Die grundlegende Annahme lautet hier nicht „Schüler müssen lernen“, sondern „Schüler wollen lernen“. Nur wenn dieser natürliche Impuls kaputtgemacht wird – durch permanenten Leistungsvergleich und Negativkritik – verlieren sie die Freude und geraten in eine Situation, in der sie lernen müssen.

Eltern wünschen Fortsetzung nach Klasse 4

Im Grunde herrscht hier ein radikales Förderprinzip. Dazu muss jede Lehrkraft ihre Rolle völlig neu begreifen. Statt vor den Schülerinnen und Schülern zu stehen, ist ihr Arbeitsort jeweils dort, wo die Kinder gerade ihre Projekte bearbeiten. Sie ist weniger Wissensvermittler als Lernbegleiter, der jedes Kind genau kennt, gezielt Anstöße gibt und geschickt Knoten in deren Köpfen löst. Sie stellt kluge Fragen, beschränkt ihre Antworten auf ein Minimum, weil sie die Kinder viel selbst entdecken lässt.

Trotz der Mehrarbeit durch die Bereitstellung einer Mehrzahl von Lernmaterialien für eine Mehrzahl von Leistungsstufen und der notwendigen Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen will niemand zurück an eine Regelschule. Jeder und jede genießt die große Gestaltungsfreiheit und die besondere Atmosphäre der Schule. Natürlich geht es an dieser Schule auch um „Leistung“. Die zentralen Lernstandserhebungen belegen, dass die Kinder nicht schlechter vorbereitet auf die weiterführenden Schulen wechseln. Aber es geht immer um die Leistung, die ein Kind erbringen kann. Kinder sollen sich nicht als Verlierer erleben. Wenn etwa die Leistung eines Kindes mit geistiger Behinderung vor der Gruppe präsentiert wird, macht der Lehrer dabei immer deutlich, um wieviel mehr das Kind kämpfen musste, um dieses „schlechtere“ Produkt zu erreichen. Und das respektieren die Kinder.

Müssen wir noch über Inklusion sprechen? Wo doch ein Drittel der Schülerschaft den Förderbedarf geistige Entwicklung aufweist? Nein. Das ist hier kein Thema. Weil hier konsequent ein individuelles Förderkonzept verfolgt wird, ist es letztlich gleich, auf welcher Lernstufe sich ein Kind bewegt. Alle haben eine optimale Förderung verdient, und deswegen steht die Schule allen Kindern offen. Punkt.

Hanno Henkel und Arnulf Müller

Kontakt:

Antonius von Padua Schule
Carl-Schurz-Straße 22
36041 Fulda
 schule@antonius.de
www.avp-schule.de