Offene Schule Waldau

Inklusion kann nur in einer Schule für alle Kinder gelingen

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

Foto: Der Mensadienst ist ein fester Bestandteil der pädagogischen Konzeption der Offenen Schule Waldau. Hier freut sich eine 5. Klasse darüber, dass der Mensadienst gemeinsam geschafft wurde. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichter unkenntlich gemacht. Die Freude an der gemeinsamen Aufgabe kann man trotzdem erkennen! (OSW)

Die Offene Schule in Kassel Waldau (OSW) hat als Versuchsschule in Hessen mit einem guten Konzept und den entsprechenden Ressourcen 20 Jahre lang den Gemeinsamen Unterricht erfolgreich umgesetzt und dafür im Jahr 2013 den Jakob-Muth-Preis erhalten.

Unter Inklusion verstehen wir Lehrerinnen und Lehrer und die ganze Schulgemeinde der OSW die Teilhabe und bestmögliche Förderung aller Kinder und Jugendlichen. Wir sehen die Heterogenität der Schülerschaft als besondere Qualität unserer Schule wie auch aller anderen Integrierten Gesamtschulen. Deshalb sind neben den Grundschulen die Integrierten Gesamtschulen, die binnendifferenziert unterrichten, die einzige Schulform, an der wirkliche Inklusion gelingen kann. Die politisch Verantwortlichen in Hessen haben dies noch nicht erkannt. Im Koalitionsvertrag kann man lediglich ein einziges Mal das Wort „Gesamtschule“ lesen.

Die Förderschullehrkräfte gehören zum Kollegium

Nach dem „Index für Inklusion“ benötigen Schulen bestimmte Kulturen, Strukturen und Praktiken, um das Lernen und die Teilhabe für alle Kinder in der Schule der Vielfalt entwickeln zu können. Bedeutsam für uns ist, dass die Förderschullehrkräfte zum Kollegium gehören und durch aktive Mitarbeit in Gremien und Arbeitsgruppen Schulentwicklung mitgestalten. Ihre Expertise darf nicht ausschließlich in der Beratung und Förderung zum Tragen kommen, sondern muss auch in Schulentwicklungsaufgaben einfließen. Gemeinsam mit allen, die an der Schule arbeiten, müssen die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen und im Alltag einer Schule für alle Kinder gelebt, gefestigt und weiterentwickelt werden. An der OSW gehört jeweils eine Förderschullehrkraft zu einem Jahrgangsteam aus jeweils 6 Klassen. Teamsitzungen, Fallbesprechungen und Koordinationsstunden im Team sind für die gemeinsame Unterrichtsplanung wichtige Voraussetzungen. Alle Schülerinnen und Schüler arbeiten in der Regel am gleichen Lernstoff. Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen werden berücksichtigt, indem den Kindern verschiedene Schwierigkeitsniveaus, unterschiedliche Zugänge zum Thema oder mehrere Möglichkeiten der Bearbeitung angeboten werden. Der Ansatz der Schule, die Schülerinnen und Schüler von Anfang an in der Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu stärken und ihnen Methoden und Kompetenzen für das selbstständige Lernen an die Hand zu geben, ermöglicht und unterstützt die inklusive Arbeit. Dabei geht es nicht nur um fächerspezifisches Lernen. Auch dem emotionalen und sozialen Kompetenzerwerb kommt eine hohe Bedeutung zu. Für diesen Lernbereich ist die Heterogenität der Lerngruppe wichtig. Unterschiede in den Fähigkeiten und Fertigkeiten der anderen Kinder und ihre Potenziale müssen erfahren werden, um sie zu erkennen, sich damit auseinanderzusetzen und sie schließlich akzeptieren zu können. Je größer die Heterogenität der Schülerschaft, desto umfangreicher sind die Möglichkeiten der sozialen Lernprozesse.

Um die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im sozial-emotionalen Bereich, in der Kommunikation und Kooperation weiterzuentwickeln, ist das Tischgruppenmodell eine organisatorisch sinnvolle Einrichtung. Eine Tischgruppe ist keine bloße Sitzgruppe, sondern stellt eine Lerngruppe dar. Geschlechtermischung und Leistungsunterschiede in der Lerngruppe stellen Anforderungen an jeden Einzelnen. Sie verlangen die Entwicklung von Akzeptanz, Offenheit, Flexibilität und vor allem auch Teamfähigkeit. Die Tischgruppe als Organisationsstruktur bietet somit den Rahmen, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Lernprozesse mitgestalten und mitverantworten.

Die Konzeption der Offenen Schule

Rituale und andere konzeptionelle Bestandteile der OSW wie das Freie Lernen, Mensadienst, Wochenarbeitsplan, Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräche zu jedem Halbjahr, Praktika, themengebundene Kompaktwochen, Klassenfahrten und der Klassenrat sind Elemente des Schullebens, an denen alle Kinder teilhaben und von denen sie profitieren. Inklusion beschränkt sich so nicht ausschließlich auf den Klassenraum, sondern durchdringt alle Bereiche des Schulalltags: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bibliothek, Mensa, Cafeteria und Sekretariat und die Hausmeister sind offen für die Kinder und ihre Bedürfnisse.
Doch auch wenn alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen, die Schulleitung, aber auch alle Schülerinnen und Schüler und die Eltern ihren Beitrag zum Gelingen leisten, spüren wir jeden Tag, dass wir die Belastungsgrenze erreichen, wenn wir weiterhin den Ansprüchen der Inklusion gerecht werden wollen.

Die Umsetzung der inklusiven Beschulung stellt Kolleginnen und Kollegen aller hessischen Schulen täglich vor große pädagogische Herausforderungen, die sie trotz der sich verschlechternden Bedingungen mit Engagement und Kreativität verfolgen. Sie brauchen jedoch viel mehr Zeit für Teamarbeit (Koordination und Teamteaching). Sie brauchen viel mehr Förderschullehrkräfte zur individuellen Förderung der Kinder und Unterstützung der Regelschullehrkräfte Und sie brauchen in der Regel eine deutlich bessere Ausstattung auf räumlicher und materieller Ebene. Inklusion wird nur gelingen, wenn die allgemeinen Schulen diese zu ihrer Sache machen und so ausgestattet sind, dass die Lehrkräfte in der alltäglichen Arbeit mit Kindern mit all ihren Potenzialen und Schwierigkeiten nicht allein gelassen werden, sondern konkrete Unterstützung für den gemeinsamen Unterricht erfahren. Wir brauchen kleine Klassen und eine Reduzierung der Pflichtstundenzahl, damit wir unseren Anspruch auf eine bestmögliche Förderung aller Schülerinnen und Schüler erfüllen können. Es ist die Aufgabe der Landesregierung, hier Abhilfe zu schaffen!

Andrea Michel

Andrea Michel ist Förderschullehrerin und arbeitet seit 2005 an der Offenen Schule Waldau und ist eine der Vorsitzenden des GEW- Bezirksverbands Nordhessen. Mehr über die Konzeption und die Arbeit der Offenen Schule Waldau findet man auf deren Homepage www.osw-online.de, insbesondere auch in der Rubrik „Publikationen“.

Erfahrungen in der Teamarbeit an der OSW

In der HLZ 7–8/2018 haben eine Kollegin und ein Kollege der OSW über ihre Erfahrungen in der Arbeit im Team berichtet: Laura Benecke, die damals ihren Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Förderschulen an der OSW absolvierte, und Julian Flake, Lehrer für Mathematik und Geschichte. Laura Benecke beschrieb dort eindrücklich, wie sich das erste Entsetzen „bald in Neugier und Lust auf die Herausforderung Teamteaching“ verwandelte. Auch bei Julian Flake dominierte zunächst die Skepsis, aber bald lernte er die Kompetenz der angehenden Förderschullehrerin schätzen, die „für die inklusiv beschulten Kinder fachliche Unterstützung und geeignete Unterrichtsmaterialien bereit hielt und seinen Blick für die individuellen Lernprozesse der Lernenden erweiterte“. Als Resümee beschrieben sie einmütig „das große Potenzial hinsichtlich Differenzierung und individualisierter Unterrichtspraxis, die vor allem sehr heterogenen Lerngruppen zugutekommt“. Sie wiesen aber auch auf die Defizite hin, insbesondere auf die fehlenden Koordinationsstunden und auf die Tatsache, „dass die Ressourcen an Förderlehrerstunden an inklusiv arbeitenden Schulen bei weitem nicht ausreichen, um eine Teamarbeit im Unterricht möglich zu machen“.