Zehn Jahre Behindertenrechts-Konvention

Kommentar Johannes Batton

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

Vor zehn Jahren hat sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich bindend mit Wirkung zum 26. März 2009 zu einer „inklusiven Bildung“ verpflichtet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte auch Hessen Schritte einleiten müssen, um das gespaltene in ein inklusives Schulsystem zu überführen:

  • mit einer Analyse, welche Ressourcen hierfür gebraucht werden, einem Konzept und einem Zeitplan,
  • mit einer Auswertung der langjährigen Erfahrungen des Gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern (GU) und mit dem Aufbau einer sonderpädagogischen Grundzuweisung.

Schulen mit GU-Erfahrung, mit erfolgreich arbeitenden Teams aus Regelschul- und Förderschullehrkräften und einem inklusiven Selbstverständnis hätten als Vorbilder dienen können, um sukzessive alle hessischen Schulen zu inklusiven Schulen umzugestalten. Stattdessen gab es von Seiten des Hessischen Kultusministeriums (HKM) lediglich zwei (miteinander unvereinbare) politische Setzungen: das Bekenntnis, die Förderschulen als Angebotsschulen zu erhalten, und die Ankündigung, Inklusion kostenneutral durch Verschiebungen innerhalb des Gesamtsystems der sonderpädagogischen Förderung umzusetzen. Gleichzeitig wurden die Standards des GU geschleift, erfahrene Teams zerschlagen und langjährig an Regelschulen eingesetzte Förderschullehrkräfte an ein Beratungs- und Förderzentrum (BFZ) versetzt.

Den BFZ wurde mit der Novellierung des Schulgesetzes im Jahr 2011 die Aufgabe übertragen, „den allgemeinen Schulen Förderschullehrkräfte für die inklusive Beschulung im Rahmen des Stellenkontingents zur Verfügung“ zu stellen. Bei der Verteilung der knappen Ressourcen mit der Gießkanne blieb für jede einzelne Schule viel zu wenig übrig. Mit der Streichung von Regelungen zur maximalen Schülerzahl in GU-Klassen sparte man zudem im Regelschulbereich mehr als 300 Planstellen ein.
Die Folgen sind verheerend: Es fehlt an Lehrkräften für die Unterstützung der Regelschullehrkräfte im Unterricht und an Zeit für Kooperation und Teamteaching. Die Gruppe Inklusionsbeobachtung (GIB), in der die GEW mitarbeitet, beobachtet mit Sorge, dass die Akzeptanz für Inklusion schwindet. Gleichzeitig steige die Zahl der Schülerinnen und Schüler, deren Schulpflicht für „ruhend“ erklärt wird.

Das HKM redet sich seine verfehlte Inklusionspolitik schön und ist ständig dabei, mit neuen Organisationsformen seinem Durchwursteln den Anschein von Rationalität zu verleihen. Ein Beispiel sind die jetzt flächendeckend verordneten Inklusiven Schulbündnisse (ISB), die Standorte für die inklusive Beschulung festlegen und Kriterien für die Verteilung der Ressourcen entwickeln sollen. Hätte jede Schule die sonderpädagogische Grundausstattung, die für gelingende Inklusion nötig ist, bräuchte es keine ISB, die offensichtlich den Mangel flexibler verwalten und die Verantwortung auf die Schulen abwälzen sollen. Indem sie den Mangel als gegeben hinnehmen, verstellen sie den Blick auf das, was für die Entwicklung zur inklusiven Schule notwendig wäre. Sie wirken somit „anti-inklusiv“.

Vor 25 Jahren beschrieb ich in der HLZ 9/1994 die Integration behinderter Kinder in Hessens Regelschulen als einen „wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Schule, die für alle offen ist und bereit, sich mit den Bedürfnissen ihrer Kinder auseinanderzusetzen – auch mit den Bedürfnissen der Kinder, die nicht die ‚normalen‘ Lernziele erreichen können“. Integration zu fördern, bezeichnete ich „als oberstes Gebot in einer Zeit, da ein vordergründiges Kosten-Nutzen-Denken und damit zusammenhängend Gewaltprobleme und die Ausgrenzung von Minderheiten wieder an Raum gewinnen“. Ersetzt man „Integration“ durch „Inklusion“, so wird klar: Auch zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention gilt es immer noch, den Verantwortlichen in Politik und Schulverwaltung die Folgen ihres Handelns vor Augen zu führen und die Bedingungen einzufordern, die wir für eine gelingende Inklusion dringend benötigen.