Zum Beispiel: Grundschule

Im Gespräch: Wie Inklusion gelingen kann

HLZ 6/2019: Sonderpädagogische Förderung

Foto: Die gemeinsame Arbeit mit Kindern im Unterricht ist für die Kolleginnen der Grundschule und des BFZ eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Inklusion. Das Foto entstand nicht an der Schule, die im Bericht vorgestellt wird. (Bert Butzke)

Helga Müller (1) ist eine erfahrene Grundschullehrerin, Bettina Peters ist Förderschullehrerin, die vor 20 Jahren an einer Grundschule eingestellt wurde, und Claudia Fröhlich-Schulz hat ihre Stammdienststelle am zuständigen regionalen Beratungs- und Förderzentrum (BFZ). Die drei Kolleginnen arbeiten in einem multiprofessionellen Team gemeinsam in der inklusiven Beschulung an einer mittelgroßen Grundschule im Rhein-Main-Gebiet. Helga Müller ist Klassenlehrerin in einer dritten Klasse, in der zwei Mädchen mit dem Förderbedarf Geistige Entwicklung (GE) unterrichtet werden. Komplettiert wird das Team durch zwei Teilhabeassistentinnen, die – so Helga Müller – „die Schule gut kennen und das leisten, was wir nicht können“. Bettina Peters erinnert sich, wie es war, als die Mädchen vor über zwei Jahren aus integrativen Kindertagesstätten in die Schule kamen: „Sie sprachen nur ganz wenig, ein Kind musste bis zum Ende des zweiten Schuljahres gewindelt werden.“ Inzwischen bewältigen sie den Schulweg mit Begleitung schon viel sicherer, sind aktiver und selbstständiger. Wichtig ist allen drei Kolleginnen, dass sie im Unterricht gemeinsam mit allen Kindern arbeiten. „Dabei tauschen wir auch die Rollen, wer unterrichtet und wer mit den beiden Kindern oder einer kleinen Gruppe in den Gruppenraum geht“, sagt Bettina Peters, der es ganz wichtig ist, auch weiterhin „als Lehrerin vor der ganzen Klasse zu stehen oder eine Kleingruppe zu unterrichten“. Die Zuweisung ermöglicht es, so zu arbeiten. Für die beiden Kinder mit dem Förderbedarf GE wurden der Schule vom BFZ je fünf Stunden zugewiesen. Im Einvernehmen mit der Gesamtkonferenz bekam die Klasse noch einmal acht Förderschullehrerstunden aus der systemischen Zuweisung, die der Schule für den Inklusiven Unterricht insgesamt zusteht. „Damit kann man gut arbeiten“, sagen Helga Müller und Bettina Peters übereinstimmend, wissen aber schon jetzt, dass im nächsten Schuljahr eine weitere Klasse mit einem GE-Kind gebildet wird: „Dann müssen wir wohl etwas abgeben.“ Doch in den ersten drei Schuljahren konnten Grundlagen des Miteinanders von Lehrkräften und Kindern gelegt werden, die dann auch mit einer geringeren Stundenzahl tragfähig sein sollten.

Die Koordination von drei Lehrkräften und zwei Teilhabeassistenzen kostet sehr viel zusätzliche Zeit. Helga Müller schätzt, dass sie mindestens drei Stunden in der Woche aufwendet, um die Arbeit mit ihren Förderschulkolleginnen zu koordinieren, oft in der Schule, manchmal auch zu Hause auf der Terrasse. Die Koordination mit den Teilhabeassistentinnen erfolgt „en passant“ im schulischen Arbeitsalltag. Gerade die Planung, wie man die Arbeit auf den verschiedenen Anspruchsebenen verknüpfen kann, macht ihnen erkenntlich Spaß: „Ich helfe….“ ist für alle Kinder eine feststehende Aufgabe im Wochenplan, die sie dann selbst ausfüllen können. Im Mathematikunterricht inszenieren die Lehrerinnen ein Rollenspiel im Restaurant, bei dem die GE-Schülerinnen mit Eurobeträgen, die übrigen Kinder mit Eurobeträgen als Kommazahlen rechnen und alle jeweils mit richtigem Geld aus der Geldbörse bezahlen und herausgeben müssen.

Im ersten und zweiten Schuljahr ging sehr vieles zusammen, beim Abmalen von Buchstaben oder bei der Entwicklung von Handzeichen für die Laute. „Jetzt brauchen wir öfter den Gruppenraum, den wir uns mit einer Nachbarklasse teilen müssen“, sagt die Förderschullehrerin. „Stimmt“, bestätigt Helga Müller, „wenn ich in der Klasse etwas Neues einführe, dann darf keine Stecknadel fallen.“ Aber auch die Grundschullehrerin, die am Ende ihrer Berufslaufbahn steht, profitiert von den Erfahrungen: „Um die GE-Kinder einzubeziehen, gehört der Erzählkreis jetzt auch im dritten Schuljahr zu meinem festen Tagesablauf.“ Aber die GE-Kinder haben auch ein eigenes Programm: Anstelle des Englischunterrichts wird gekocht, parallel zu Ethik und Religion absolvieren sie ein motorisches Radfahrtraining. Das kann aber auch heißen, dass diese Kinder ihre gezielten Beobachtungen im Umfeld der Schule dann wieder in die Klasse einbringen, wenn dort die Arbeit mit Stadtplänen und Karten auf dem Stundenplan steht.
Dass dieses Team funktioniert und akzeptable Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte mit guten Lernbedingungen für Kinder verknüpft, hat mindestens zwei Gründe: Die Ressourcen sind ausreichend und die „Chemie“ stimmt. Dazu gehört auch die Tatsache, dass Bettina Peters und Helga Müller schon lange an derselben Schule arbeiten, dass Claudia Fröhlich-Schulz und die beiden Teilhabeassistentinnen am Ort der Schule wohnen. „Das heißt nicht, dass wir immer derselben Meinung sind, dass es nicht auch mal kracht“, meint Helga Müller, die als Klassenlehrerin die „letztliche Verantwortung“ trägt, „aber wir kennen uns gut und schätzen die unterschiedlichen Kompetenzen“.

Fragt man die Förderschullehrerin Bettina Peters nach „ihrer Schule“, dann ist das die Grundschule. Hier nimmt sie selbstverständlich an den Elternabenden der Klasse teil, hier geht sie möglichst zu allen Konferenzen, „auch wenn es nicht um sonderpädagogische Belange im engeren Sinn geht“, hier nimmt sie an den Kollegiumsausflügen teil und hier ist sie Mitglied des Schulpersonalrats. Aufgrund ihrer beruflichen Biografie gehört sie zu den Förderschullehrkräften, die im Rahmen des Gemeinsamen Unterrichts und des Kleinklassen-Erlasses an einer allgemeinen Schule eingestellt wurden und auch weiterhin dort ihre Stammschule haben. Aber sie schätzt auch die Anbindung an das BFZ, den fachlichen Austausch und die Informationen, die sie benötigt, wenn sie im Auftrag des BFZ förderdiagnostische Gutachten an anderen Schulen in der Region erstellt. Ein Manko ist die große Zahl der Konferenzen: „Da kann ich nicht auf allen Hochzeiten tanzen, ohne dass ich mich zerreiße und überfordere.“ Aus den Gesprächen am BFZ weiß Bettina Peters aber auch, dass viele Kolleginnen und Kollegen ganz andere Erfahrungen machen, wenn sie in den allgemeinen Schulen eingesetzt werden, wenn sie durch die Schulleitungen „vereinnahmt“ werden, um Lücken zu stopfen, oder wenn sie für die unzureichenden Ressourcen verantwortlich gemacht werden: „Da kann ich schon verstehen, wenn sie sich abgrenzen und darauf bestehen, dass das BFZ ihre ‚Dienststelle‘ ist.“ Und sie hat auch für die Kolleginnen und Kollegen an den GE-Schulen Verständnis, die befürchten, dass die „Kinder mit geringeren Beeinträchtigungen“ in die inklusiven Regelschulen gehen, Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen oder mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten aber an die GE-Schulen, die so zu „Restschulen“ werden.

Insoweit erzählt auch dieses Beispiel für „gelingende Inklusion“ eine Geschichte, die ermutigt und zugleich auch Fragen offen lässt.

Harald Freiling, HLZ-Redakteur

(1) Alle drei Kolleginnen haben darum gebeten, dass ihre Namen und der der Schule nicht genannt werden. Deshalb wurden die Namen von der Redaktion geändert. „Warum wollt ihr nicht genannt werden, obwohl es um eine Erfolgsgeschichte geht, obwohl ihr nicht das Kultusministerium beschimpft, weil die Ressourcen nicht ausreichen?“, wollte der HLZ-Redakteur von den Kolleginnen, von denen zwei auch aktive Mitglieder der GEW sind, wissen. „Gerade deshalb“, war die verblüffende Antwort, „wir haben schlicht Angst, dass man dann hinterfragt, ob unsere Schule zu Recht so viele Stunden hat oder ob wir nicht vielleicht auch zu viel aus der schulischen Ressource in eine einzige Klasse geben, damit Inklusion dort gelingt.“