Rückkehr zur Klassenfrage an den Hochschulen?

Klassenstrukturen an den Hochschulen waren lange ein Tabu

HLZ 12/2021: Studieren in Hessen

Soziale Ungleichheit unter der Benennung von gesellschaftlichen Klassenstrukturen zu diskutieren, war lange ein Tabu. Auch wenn die sich öffnende Schere, mit steigendem Wohlstand auf der einen und zunehmender Armut auf der anderen Seite, eklatant hervortritt, wurde lange Zeit bei der Benennung sozialer Unterschiede eher von „Milieus“ oder „Schichten“ als von „Klassen“ gesprochen. Implizit wurde damit eine generelle Wahlmöglichkeit von Lebensformen und Zugehörigkeiten unterstellt.

Arbeiter:innenkinder denken laut über ihre Erfahrungen im Bildungssystem nach

In den letzten Jahren kam es zu einer bemerkenswerten Trendwende. In Frankreich erschienen mit Annie Ernaux‘ „Die Jahre“ (2008, dt. 2017) und Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (2009, dt. 2016) autobiographische Studien, in denen die Autor:innen ihre eigene Lebensgeschichte mit soziologischen und politologischen Betrachtungen verschränkten. So stießen sie den Blick zurück in die eigene Klassen-, Sexualitäts- und Bildungsbiographie an. Gerade Eribon thematisiert anhand seines eigenen Werdegangs die Schwierigkeiten, scheinbar unvereinbare soziale Realitäten und Identitäten miteinander in der eigenen Person in Einklang zu bringen, ohne darunter zu leiden oder die soziale Herkunft zu verstecken. 

In der Folge erschienen auffällig viele biografische und wissenschaftliche Publikationen, die den Begriff „Klasse“ wieder auf den Tisch brachten. In Deutschland schilderte Christian Baron in seinem autobiographischen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (2020) eine Kindheit in prekären Armutsverhältnissen, seinen Zugang zu Bildung und beruflicher Selbstbestimmung – wider alle Wahrscheinlichkeiten. In dem Sammelband „Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien“ (hg. v. Hüttner/Altieri 2020) berichten Wissenschaftler:innen aus der Arbeiter:innenklasse offen und ungeschönt von ihren persönlichen Wahrnehmungen des Bildungssystems. Das Gefühl, eigentlich nicht dazu zu gehören, eventuell nur durch glückliche Umstände, Zufall oder ein Missverständnis in den universitären Kontext geraten zu sein (das sogenannte „Impostor-Syndrom“), ist dabei auf allen Stationen der Ausbildung bis hin zur Professur zu finden. Dies beschreiben Wissenschaftler:innen im Sammelband „Vom Arbeiterkind zur Professur“ (hg. v. Reuter et al. 2020).

Um aus den Erfahrungen der Benachteiligung Forderungen nach diskriminierungsminderndem Handeln entwickeln zu können, wird zunehmend auf den Begriff „Klassismus“ zurückgegriffen.

Was ist Klassismus?

Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder Position. Dabei legt sich der Klassismusbegriff nicht auf eine starre Definition der Klasse – etwa nach Marx oder Weber – fest. Klassismus ist ein Begriff aus und für die Praxis, der aufzeigen soll, wo Diskriminierung, Ausbeutung und Aberkennung stattfindet. In dieser ideologisch-theoretischen Offenheit liegt Segen und Fluch zugleich: Zum einen macht es den Begriff anschlussfähig für Alltagsdiskurse, zum anderen verliert er dadurch seine analytische Schärfe. Um wissenschaftliche Brauchbarkeit geht es dem Klassismusbegriff jedoch in erster Linie nicht. Vielmehr soll er für eine neue Sichtweise sensibilisieren (Kemper/Weinbach 2009).

Als Diskriminierungsform ist Klassismus oft fest verwoben mit anderen Arten der Ausgrenzung wie Sexismus, Rassismus, Ableismus. Dabei ist Klassismus diesen anderen Formen keinesfalls untergeordnet. Schon aus der Begriffsgeschichte ergibt sich die enge intersektionale Anbindung des Klassismus an sexistische und rassistische Diskriminierungspraxen: So wurde der Klassismusbegriff in den 1970er Jahren von lesbischen Arbeiter:innenkinderbewegungen in der USA politisiert und spielte auch in schwarzen feministischen Gruppierungen eine prominente Rolle.

Wer kommt und wer bleibt an der Hochschule?

Dass Klassismus nicht allein auf subjektiver Ebene verhaftet bleibt, sondern sich gerade auch strukturell niederschlägt, lässt sich eindrücklich an dem sogenannten Bildungstrichter verdeutlichen: Aus dem Hochschulbildungsreport 2020 (hg. v. Stiftungsverband/McKinsey) geht hervor, dass in Deutschland 79 % der Kinder von Akademiker:innen ein Studium beginnen, während aus der gleichen Alterskohorte nur 27 % der Kinder von Arbeiter:innen sich an einer Hochschule einschreiben. Mit jedem weiterführenden Bildungsabschluss scheiden überproportional viele Studierende aus, die aus nicht-akademischen Haushalten kommen. Für eine Promotion entscheiden sich am Ende nur 2 % der Arbeiter:innenkinder im Gegensatz zu 6 % der Akademiker:innenkinder. Dieser Prozess sozialer Selektion setzt sich auch in der beruflich-wissenschaftlichen Laufbahn bis zu den Professuren fort. Im Rahmen der Bildungsexpansion hat sich die soziale Selektion in Teilen auf den tertiären Bildungssektor verschoben: Zwar studieren deutlich mehr Kinder von Arbeiter:innen nun an Hochschulen. Hilfskraft-, Promotions- oder wissenschaftliche Mitarbeitendenstellen gehen jedoch weiterhin überwiegend an Personen aus akademischen Elternhäusern. Gerade Professuren werden wieder deutlich sozial exklusiver (Möller 2013).

Je teurer die Städte, je renommierter die Hochschulen und je höher der NC, desto weniger Arbeiter:innenkinder finden sich in den Hörsälen. Höher liegt der Anteil von Arbeiter:innenkindern unter den Studierenden hingegen an Fachhochschulen und in sozial- wie erziehungswissenschaftlichen Studiengängen. Das zeichnet sich auch an hessischen Hochschulen ab: Laut Studierendenbefragungen stammen an der Goethe-Universität Frankfurt nur etwa 43 % der Studierenden aus nicht-akademischen Haushalten, bei der JLU-Gießen sind es bereits 48 %. An hessischen Fachhochschulen, wie der Frankfurt University of Applied Sciences, sind die Arbeiter:innenkinder bereits deutlich in der Überzahl.

Benachteiligungen aufgrund von Klassenherkunft konkret entgegenwirken

Zu den politischen Maßnahmen, durch welche Benachteiligungen im tertiären Bildungsabschnitt abgebaut werden könnten, zählen neben einer familienunabhängigen, niedrigschwelligen und auskömmlichen Studienfinanzierung etwa transparente Ausschreibungs- und Auswahlprozesse von Hilfskraft- sowie Promotionsstellen, die Aufnahme von Klassismus als Diskriminierungsform in die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsarbeit der Hochschulen sowie die Etablierung eines Monitoring-Verfahrens, welches den Anteil und die Abbruchrate von Studierenden aus nichtakademischen oder finanziell benachteiligten Haushalten überwacht. Bislang erhebt in Hessen nur die Universität Gießen jährlich entsprechende Zahlen.

Da es am politischen Willen zur Umsetzung dieser Maßnahmen bisher fehlt, bleibt es an den betroffenen Studierenden und Mittelbauangehörigen, sich selbst zu organisieren. An einigen Hochschulen ist dies bereits geschehen. Das erste Autonome Referat für Arbeiter:innenkinder, das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FikuS), wurde 2004 in Münster gegründet.  Dabei orientierte man sich an den Autonomen Frauen-, Schwulen und Lesbenreferaten, die in den 1970er Jahren an deutschen Universitäten eingerichtet wurden. Diese Autonomen Referate sind zwar dem AStA angegliedert, werden jedoch auf einer Vollversammlung von den Betroffenengruppen gewählt.  Diese Referate sollen nicht nur als Anlaufstelle für Arbeiter:innenkinder fungieren oder mit Bildungsangeboten auf Klassismus aufmerksam machen, sondern stellen auch einen wesentlichen Baustein einer gesamtgesellschaftlichen Transformation dar: Ähnlich wie die Frauenbewegung sollen aus dieser antiklassistischen Selbstorganisation heraus gesellschaftlich-politische Schaltstellen besetzt werden, um so auf den Abbau von Bildungsbenachteiligung hinzuwirken.

Für 15 Jahre blieb der FikuS in Münster das einzige Autonome Referat für Arbeiter:innenkinder in Deutschland. Erst 2019 folgte eine weitere Gründung in Marburg (SoFiKus), anschließend in Köln (fakE) und München (Anti-Klassismus-Referat). In Gießen wurde im Wintersemester 2020/21 eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „CLASS MATTERS! Soziale Herkunft und Benachteiligung im Bildungssystem“ veranstaltet. Im November 2021 wurde daraufhin ein Antiklassismus-Referat gegründet. An weiteren Hochschulen sind Referate in Planung. Auch einen Dachverband gibt es schon: den „Verein zum Abbau von Bildungsbarrieren e.V.“ und eine deutschlandweite Arbeiter:innenkinderzeitung, den „Dishwasher“.

Fazit

Die aktuellen Debatten um Klassismus und die Rolle der Klasse im Bildungssystem – insbesondere an der Hochschule – stehen im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Verflechtung verschiedener Diskriminierungsformen. Dazu gehören tiefgreifende strukturelle Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht und Sexualität oder aufgrund post- und neokolonialer Verhältnisse, wie die „Black Lives Matter“-Bewegung sie explizit gemacht haben. Die Debatte zeigt auch, dass inzwischen immer mehr Personen den analytischen Weg gehen, der Autobiographie und Sozialstrukturanalyse miteinander verbindet. Dabei wird deutlich, dass Bildung nicht entfremdet gelebt werden muss, sondern zum Verstehen der eigenen Bedingungen genutzt werden kann.

Die Hochschule in ihrer Doppelrolle als Ort der kritischen Reflexion und politischen Selbstorganisation, aber auch der Reproduktion sozialer Ungleichheit, scheint ein geeigneter Ausgangspunkt, diesen Austausch gemeinsam mit anderen zu führen und individuelle Biographiearbeit mit kollektiven Organisationsformen zu verbinden. Wenn die Debatte um Klassismus und die Rückkehr der Klassenfrage kein kurzlebiges Phänomen bleiben sollen, ist es notwendig, nachhaltig und grundsätzlich über Lebenschancen und kollektives Handeln in unserer Gesellschaft nachzudenken.

Henning Tauche und Jutta Hergenhan

Dr. Jutta Hergenhan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Henning Tauche ist Referent im AStA der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied im Landessprecher:innenteam der GEW Studierenden in Hessen.


Bild: Sandy Millar, www.unsplash.com

Literaturangaben

Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd (Hg.): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien. Marburg: BdWi-Verlag, 2020

Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Claassen, 2020

bell hooks: Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Münster: Unrast, 2020 (Engl. Original: where we stand: class matters. Routledge, 2000)

Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp, 2016 (Franz. Original: Retour à Reims. Fayard, 2009)

Ernaux, Annie: Les années. Paris: Gallimard, 2008

Kemper, Andreas/Weinbach, Heike: Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast: 2020 [2009])

Laufenberg, Mike/Erlemann, Martina/Norkus, Maria/Petschick, Grit (Hg.): Prekäre Gleichstellung. Geschlechtergerechtigkeit, soziale Ungleichheit und unsichere Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft. Wiesbaden: Springer VS 2018

Miethe, Ingrid: Der Mythos von der Fremdheit der Bildungsaufsteiger_innen im Hochschulsystem. In: Zeitschrift für Pädagogik 63. 2017, 686-707

Möller, Christina: Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger? Explorative Analysen zur sozialen Herkunft der Professorinnen und Professoren an den nordrhein-westfälischen Universitäten. In: Soziale Welt 64. 2013, 341-360

Reuter, Julia/Gamper, Markus/Möller, Christina/Blome, Frerk (Hg.): Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. Bielefeld: transcript, 2020

Roig, Emilia: Why we Matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau, 2021

Theißl, Brigitte/Seeck, Francis (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen. Münster: Unrast, 2020