Video-Live-Schaltungen sind keine Perspektive für den Unterricht

Versuch und Irrtum | Erlass des HKM

Partizipation der nicht am Präsenzunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sinnvoll gestalten

Schülerinnen und Schüler, die aufgrund einer individuellen ärztlichen Bewertung im Falle einer Erkrankung dem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs ausgesetzt sind und daher nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können, müssen sinnvoll in den Präsenzunterricht eingebunden werden – das steht außer Frage. Didaktische Varianten zum Präsenzunterricht werden seit Ausbruch der Pandemie erprobt und sind einmal mehr und einmal weniger erfolgreich. Nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ tastet sich das Hessische Kultusministerium (HKM) an den richtigen Weg zur digitalen Schule heran. Eine dieser Maßnahme beinhaltet, dass Lehrkräfte punktuell die nicht am Präsenzunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler per Livestream dem Unterricht „zuschalten“.

Welche rechtlichen Regelungen gibt es?

Im Erlass vom 23.7.2020 wird beschrieben, dass „die Lehrkräfte der Schülerinnen und Schüler, die am Präsenzbetrieb nicht teilnehmen, […] sicherzustellen [haben], dass eine direkte Anbindung an den Präsenzunterricht hergestellt wird.“ Der Erlass sieht vor, dass „zu diesem Zweck […] eine Zuschaltung einzelner Schülerinnen und Schüler per Videokonferenzsystem erfolgen [kann].“  Im Erlass vom 20.8.20 wird dann konkretisiert, dass in jedem konkreten Einzelfall  der Einsatz des Videokonferenzsystems geprüft werden muss. Es wird klargestellt, dass dieser Einsatz auf das notwendige Maß beschränkt bleiben muss und in jedem Fall mit weiteren digitalen und analogen Werkzeugen verknüpft werden muss. Weiter heißt es im Erlass:

„Der Einsatz zur Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern sollte im Vorfeld sorgfältig abgewogen werden. Es ist zu prüfen, welche Informationen und Lerninhalte pädagogisch sinnvoll über dieses Medium transportiert werden können und ob ein strukturierter Austausch mit der ganzen Klasse oder nur mit einzelnen Gruppen zielführend ist.“

Welche Rechte hat die einzelne Lehrkraft?

Das HKM hat eindeutig geregelt, dass die Zuschaltung von Schülerinnen und Schülern, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können, nur dann erlaubt ist, wenn ihr die betroffenen Eltern und die Schülerinnen und Schüler selbst, wenn sie mindestens 14 Jahre alt sind, schriftlich zugestimmt haben. Dasselbe gilt für die anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse oder Lerngruppe sowie ihre Eltern. Aber ausgerechnet für die Lehrkräfte – und nur sie dürfen im Bild gezeigt werden – soll das nicht gelten!

Dieses Vorhaben, dass Schülerinnen und Schüler per Livestream dem Unterricht zugeschaltet werden, tangiert selbstverständlich das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der einzelnen Lehrkraft, das seine Ausprägung hier insbesondere im Recht auf informationelle Selbstbestimmung findet. Auch einem pädagogischen Laien dürfte klar sein, dass eine ungefilterte Übertragung  des Unterrichts per Livestream ohne weitere didaktische Aufbereitung den Präsenzunterricht nicht ersetzen kann. Unterricht ist ein interaktives Geschehen und lässt sich schon gar nicht in irgendeiner Weise abbilden, wenn die Kamera "ausschließlich auf die Lehrkraft“ ausgerichtet sein darf.

Das HKM sieht das teilweise anders und schreibt:

„Für die Teilnahme von Lehrkräften an den Echtzeit-Videokonferenzen zur Übertragung des Präsenzunterrichts an nicht präsente Schülerinnen und Schüler bedarf es keiner Einwilligung durch die einzelne Lehrkraft.“

Vielmehr könne die Schulleitung entscheiden, ob ein Videokonferenzsystem eingesetzt wird, soweit dies „zur Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist.“ Für die GEW steht dagegen fest, dass in das Grundrecht jeder Lehrkraft auf informationelle Selbstbestimmung nur eingegriffen werden kann, wenn das „Vorhaben“ des HKM, Teile des Unterrichts per Livestream zu „übertragen“, alternativlos ist und der in unserem Rechtssystem tief verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprüft wurde. Auch wenn der Hessische Datenschutzbeauftragte dem Vorgehen zugestimmt haben soll, sieht die GEW erhebliche Gefahren für einen Missbrauch des Systems:

  • Auch wenn ein Mitschneiden ausdrücklich untersagt ist, kann ein Missbrauch im digitalen Zeitalter nicht ausgeschlossen werden.
  • Der Livestream kann an jedem Ort verfolgt werden und es ist jederzeit möglich, dass weitere Personen zuschauen. 

Was heißt das konkret für den Unterricht der einzelnen Lehrkraft?

Für die GEW findet bei einer solchen Liveübertragung aus dem Unterricht das Weisungsrecht des Dienstherrn sein Ende und die pädagogische Freiheit ihren Anfang. Letztendlich muss es jeder Lehrkraft selbst überlassen bleiben, ob sie eine solche Übertragung punktuell zulassen möchte und ob sie das vertreten kann oder nicht. Schließlich ist auch die Wahl der didaktischen Mittel vom Grundsatz der pädagogischen Freiheit geschützt. Wenn die Lehrkraft den Einsatz eines Videokonferenzsystems für die pädagogische Anbindung der Schülerinnen und Schüler nicht als notwendig betrachtet, sondern andere didaktische Mittel einsetzen will, sollte sie dies laut und deutlich zum Ausdruck bringen und entsprechend begründen und zugleich darlegen, wie sie die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können, sicherstellt.

Im Erlass vom 23.7.2020 wird so auch eine Vielzahl weiterer Maßnahmen aufgeführt, um den Schülerinnen und Schülern eine Anbindung an den Präsenzunterricht zu ermöglichen:

„Alle relevanten Unterrichts- und Übungsmaterialien können postalisch oder digital versandt werden. Sie sind in diesem Fall didaktisch so aufzubereiten, dass die im Unterricht erfolgte Einführung und Erläuterung eines neuen Lerngegenstandes auch für die Schülerin oder den Schüler im Distanzlernen ermöglicht wird. Darüber hinaus stehen Lehrkräfte einzelnen Schülerinnen oder Schülern in individuell festgelegten Besprechungs- und Beratungszeiten zur Klärung von inhaltlichen Fragen, Austausch von Unterrichtsmaterialien und Übungen zur Verfügung. Sie können in der Schule vor Ort, telefonisch oder via Internet digital stattfinden. Auch ein Hausbesuch ist zur Beratung in Ausnahmefällen möglich, sofern die Lehrkraft dies gewährleisten kann.“

Und was ist mit der technischen Ausstattung?

Der Einsatz eines „Live-Streams“ an den Schulen hängt selbstverständlich auch von den technischen Möglichkeiten ab, die an den Schulen vorhanden ist. Das sieht auch das Hessische Kultusministerium nicht anders. Lehrkräfte, die weder vom Land Hessen noch von der Schule die technischen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um Videokonferenzen durchzuführen, können sich daher jederzeit auf die rechtlich unbestrittene Position zurückziehen, dass der Einsatz eines Videokonferenzsystems deshalb nicht möglich ist, weil die technischen Voraussetzungen, für die der Dienstherr verantwortlich ist, (noch) nicht gegeben sind.

Und nun?

Personalräte haben uns zurück gemeldet, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen über das Vorhaben bei ihnen beschwert haben. Sie haben nachgefragt, ob die Personalräte über die Probleme der Ausgestaltung mitdiskutiert haben und sie beeinflussen konnten. Und genau hier liegt einmal mehr das Problem. Die Beteiligungsrechte und damit die Mitbestimmung wurden nicht beachtet, der Erlass „Einsatz digitaler Werkzeuge im Schulalltag“ am 20.8.2020 wurde ohne Beteiligung des Hauptpersonalrats der Lehrerinnen und Lehrer (HPRLL) veröffentlicht.

Der HPRLL wird dieses undemokratische Vorgehen nicht hinnehmen und beraten, was er zur Klärung der Rechtslage unternimmt. Es geht darum, sinnvolle Wege und Möglichkeiten zur Einbindung der Schülerinnen und Schüler, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen, zu finden und rechtlich abzusichern. Hierbei müssen die Rechte aller Beteiligten berücksichtigt werden. Auch Lehrkräfte haben selbstverständlich Rechte und müssen den Prozess einer sinnvollen pädagogisch-didaktischen Einbindung mitgestalten können. Das ist schließlich unsere Profession!

Was ist aus Sicht der GEW an den Schulen zu beachten?

Es steht außer Frage, dass die Örtlichen Personalräte bei der Einführung von Videokonferenzsystemen (VKS)  beteiligt und sogar in der Mitbestimmung sind. Dieses Recht darf nicht umgangen werden. Darüber hinaus stellt auch der Hessische Beauftragte für Datenschutz klar, dass die Bedingung bei der momentanen Duldung von VKS ist, dass „jede Schule im konkreten Einzelfall vorab die Erforderlichkeit der Nutzung eines VKS prüft." Diese Erforderlichkeit ist nur dann gegeben, wenn nachweislich überhaupt keine anderen Möglichkeit z.V. stehen, was in der Realität nirgendwo der Fall sein dürfte.