Religion und Extremismus

Präventions- und Distanzierungsarbeit mit Jugendlichen

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Seit dem Erstarken des sogenannten „Islamischen Staates“ („IS“) in Syrien und im Irak 2014 sind viele junge Menschen aus Deutschland in das vom „IS“ kontrollierte Kampfgebiet ausgereist. Spätestens seit dem Niedergang des „IS“ kehrte ein großer Teil der Ausgereisten zurück nach Deutschland. Für  über 100 Rückkehrer:innen liegen den Sicherheitsbehörden Anhaltspunkte vor, dass sie sich aktiv an Kämpfen beteiligt oder eine Ausbildung dafür abgeschlossen haben könnten. Der Krieg im Nahen Osten sowie der internationale Terrorismus haben auch Auswirkungen auf Deutschland gehabt:

  • Es gab von Terrorist:innen durchgeführte Attentate mit zahlreichen Opfern.
  • Die Zahl der von Krieg betroffenen Menschen, die nach Deutschland flüchten, um Schutz und Zuflucht zu suchen, ist gestiegen.
  • In Teilen der Bevölkerung überwiegt die Angst. Aus der Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls resultieren Verschärfungen in der Sicherheitspolitik sowie im Umgang mit Geflüchteten.
  • Die Soziale Arbeit muss sich neuen Klient:innen zuwenden, insbesondere
  • Geflüchteten,
  • Rückkehrer:innen aus Kriegsgebieten, die sich terroristischen Organisationen angeschlossen haben, und
  • Jugendlichen, die mit dieser Ideologie oder mit gewaltbereiten, militanten Organisationen sympathisieren oder in Kriegsgebiete ausreisen möchten,
  • Angehörigen und Fachkräften, die in ihrem beruflichen Kontext Berührung mit dieser Klientel haben,
  • aber auch besorgten Bürger:innen  der „Mehrheitsgesellschaft“.
  • Im Sinne eines professionellen fachlichen Handelns in der sozialpädagogischen Arbeit ist es unerlässlich, sich mit folgenden Punkten zu beschäftigen:
  • Theorie- und Hintergrundwissen zur Entstehung der Problematik,
  • Herausforderungen, Handlungsstrategien sowie Ansatzpunkte für pädagogische Diagnosen und Interventionsmöglichkeiten in der praktischen Arbeit,
  • Informationen zu Konzepten und methodischen Ansätzen für eine erfolgreiche Resozialisierung der Klient:innen im Handlungsfeld,

Beratungsstelle Hessen

In der Distanzierungsarbeit im Handlungsfeld „Religiös begründeter oder mutmaßlich religiös motivierter Extremismus“ kann es immer wieder zu Berührungspunkten mit unterschiedlichen Personengruppen kommen. Dazu gehören beispielsweise Migrant:innen, Geflüchtete, sich als religiös bezeichnende Personen, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen oder mit extremistischen Ideologien. Die Unkenntnis der spezifischen Lebenswelten dieser Gruppen kann zu Vorbehalten, Vorurteilen, Misstrauen und Spaltung führen. Insbesondere kann das unreflektierte Verknüpfen einer dominanten religiösen Identität bzw. starken Religiosität mit Extremismus oder „Islamismus“ zu Stigmatisierung führen und fatale Folgen haben. Daher ist es wichtig, in der sozialen Praxis bzw. in diesem sensiblen Themenfeld Ereignisse differenziert zu betrachten. Dies kann nur durch Wissen und eine gute Aus- und Weiterbildung in diesem Themenbereich erfolgen.

Die „Beratungsstelle Hessen – Religiöse Toleranz statt Extremismus“ von Violence Prevention Network hat 2014 ihre Tätigkeit aufgenommen und war bundesweit die erste Beratungsstelle dieser Art. Die Zielgruppe unserer Arbeit sind meistens junge Menschen, die von der Gesellschaft als problematisch angesehen werden, die eine Schieflage in ihrer Biografie haben und die als gefährdet gelten, sich gewaltorientierten islamistischen Gruppierungen anzuschließen und in diesem Rahmen Straftaten zu begehen.

Angebote und Settings

Um diesen Problemlagen erfolgreich zu begegnen, kommen verschiedene Settings zum Einsatz: Einzelcoachings, Einzelgespräche mit Gefährdeten und Gefangenen, aber auch Gruppensettings, Gruppentrainings und Workshops.

Im Einzelsetting arbeiten wir mit Methoden der Biografiearbeit, beispielsweise mit dem Genogramm, um gemeinsam mit den Klient:innen familiäre Konstellationen und Beziehungsgeflechte zu rekonstruieren, Bruchstellen gemeinsam zu erkennen und darüber schließlich gezielt und dezidiert mit den Klient:innen zu sprechen.

In unseren Gruppensettings geht es darum, gruppendynamische Prozesse anzuregen und bestimmte Themen, die gemeinsam gewählt werden und die wichtig für die Gruppe sind, zu bearbeiten. Es werden unterschiedliche didaktische Methoden angewendet, um eine Tat zum Beispiel durch Rollenspiele zu vergegenwärtigen, sie im Gruppensetting aufzuarbeiten und dabei Motivationen und Rechtfertigungsmuster zu thematisieren. Ziel ist es, Selbstreflexion und einen Prozess der Mündigkeit anzuregen.

Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Ausstiegsbegleitung, in der Radikalisierte und insbesondere Rückkehrer:innen aus Syrien innerhalb und außerhalb der Haft ein Ausstiegsangebot aus der Szene bzw. Ideologie und das Angebot einer intensiven Betreuung bekommen. Zu unseren Tätigkeiten im Justizbereich gehören die Umsetzung der Gruppenmaßnahme des Anti-Gewalt- und Kompetenz-Trainings®, regelmäßige Gespräche mit dem Vollzugsdienst sowie der kontinuierliche Austausch mit der Bewährungshilfe. Zu den Maßnahmen gehören auch gemeinsame sportliche Aktivitäten mit den Jugendlichen sowie Gespräche mit der Familie und nahestehenden Personen. Die Arbeit mit Rückkehrer:innen erfordert es, ressourcenorientiert zu arbeiten und das gesamte soziale Umfeld miteinzubeziehen. Denn dieses kann als Unterstützungsfaktor dienen, das den Klient:innen in schwierigen Lebenssituationen zur Seite steht und sie stabilisiert.

Vertrauen und Glaubwürdigkeit

In der Zusammenarbeit mit dieser Klientel ist ein wichtiges Prinzip der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und die Glaubwürdigkeit des Betreuers oder der Betreuerin. Es ist wichtig, den Jugendlichen wertschätzend zu begegnen und sie dort abzuholen, wo sie stehen. Wichtig sind dabei das aktive Zuhören, ohne zu bewerten, und ein authentisches Interesse gegenüber der Person. Um die Hintergründe und Ursachen der persönlichen Radikalisierungsverläufe zu bearbeiten, ist es notwendig, dass sich die Menschen angenommen und in ihren Fragen ernstgenommen fühlen. Als Konsequenz öffnen sie sich für pädagogische Themen, zum Beispiel der Biografiearbeit oder bildungspolitischen Themen.

Um beim Erstkontakt einen guten Zugang herzustellen, ist sowohl die Persönlichkeit des Betreuenden als auch die Grundhaltung und die Art und Weise, wie man in das Gespräch hineingeht, entscheidend. Es entscheidet sich  innerhalb kürzester Zeit, ob er oder sie sich verschließt oder öffnet. Dabei spielen Gestik, Mimik und die einführenden Worte eine wichtige Rolle.

In den Gesprächen mit unseren Klient:innen sind wir sehr häufig mit theologischen Fragen konfrontiert. Meistens sind für die Zielgruppe solche Fragen maßgeblicher, wichtiger und bindender als Gesetze eines Rechtstaates oder gesellschaftliche Konventionen. Denn oftmals sind diese Fragen Auslöser für die eigene Lebenskrise und prägen den gesamten Lebensverlauf, der in einem Suizid oder im schlimmsten Fall einem Selbstmordattentat münden kann. So erzählte uns ein Klient, dass er einen „Heiligen Treueschwur“ beim „IS“ abgelegt habe und sich frage, wie er diesen wieder zurücknehmen könne. Er habe Bedenken, aufgrund seines Treuebruchs als Sünder und Verräter zu gelten, und frage sich, ob er „als Muslim überhaupt in einem Kuffar-Land [einem nicht-muslimischen Land] leben darf“. Bei der etwa dreijährigen Betreuung dieses Falles ging es auch um Männlichkeitsbilder, die Politik im Nahen Osten und Verschwörungstheorien. Auch nach der Haftentlassung haben wir ihn regelmäßig getroffen, bei Behördengängen begleitet oder bei persönlichen Fragen beraten.

Entscheidend ist für uns, eine Synthese von sozialpädagogischer und religiöser Arbeit zu schaffen, um angemessen auf Identitätsprozesse der Klient:innen und ihre Bedarfe reagieren zu können. Uns ist wichtig, was die Jugendlichen denken, warum sie so denken, was sie interessiert, worüber sie reden möchten und worüber nicht, kurz: die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen.

Cuma Ülger und Hakan Çelik


Cuma Ülger (1988), M. A., studierte an der Goethe-Universität Frankfurt Islamwissenschaft, Jüdisch-Christliche Religionswissenschaft und Pädagogik. Er ist ausgebildeter Hochschuldidaktiker und Notfallseelsorger, Imam sowie zertifizierter Antigewalt- und Kompetenz-Trainer (AKT®). Er war Lehrbeauftragter an den Fakultäten für Sozialwesen der Hochschulen Mannheim und RheinMain in Wiesbaden. Ülger ist Projektleiter der Beratungsstelle Hessen und des Verbundprojektes KOgEX Hessen 2.0  von Violence Prevention Network gGmbH in Frankfurt am Main.

Hakan Çelik (1980), B.A., hat ein Studium der Religionswissenschaft mit Hauptfach Islam und Nebenfach Rechtswissenschaft abgeschlossen. Ferner ist er zertifizierter Antigewalt- und Kompetenz-Trainer (AKT®). Er hält Vorträge und gibt Seminare zu islamischen (sozial-)pädagogischen Themen wie Integration und Partizipation, Beratung von Radikalisierten, Gefährdeten und Rückkehrer:innen aus Kriegsgebieten. Çelik lehrte an der Hochschule Mannheim sowie der Hochschule RheinMain im Fachbereich für Sozialwesen. Er ist Projektleiter der Beratungsstelle Hessen von Violence Prevention Network gGmbH in Frankfurt am Main.