„Der 19. Februar hat unser Leben verändert"

Ali Yildirim über die Bildungsinitiative Ferhat Unvar

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Andreas Werther: Wie haben sich die Menschen gefunden, die heute in der Bildungsinitiative Ferhat Unvar mitarbeiten?

Ali Yildirim: Zuallererst waren es Serpil, Ferhats Mutter, und ich, das war der Anfang. Auf unserer Agenda stand: Wir brauchen Leute, die ehrenamtlich mit dem Herzen bei der Sache sind. Unsere Idee war, dass es einmal die Familie Unvar ist und dann Freunde und Freundinnen von Ferhat dazukommen. Es war dann wie ein Schneeballsystem, alle haben jeweils noch andere gefragt und am Schluss waren wir 17 junge Menschen und Serpil selbst in Serpils Keller. Das war das erste Treffen. Jetzt aktuell sind wir 30 aktive Leute, die Aufgaben übernehmen. Sehr viele sind dazu gekommen und einige sind wieder gegangen.

Wie organisiert ihr die Arbeit in der Bildungsinitiative?

Wir haben seit Anfang des Jahres zwei halbe Stellen: eine für Projektkoordination, das mache ich, und eine Jugendbildungsreferentin. Sie kümmert sich um die gesamte Bildungsarbeit, die Koordination der Workshops und die Ausbildung von Teamer:innen. Davor war alles ehrenamtlich und auch jetzt ist auch noch alles über die beiden halben Stellen hinaus ehrenamtlich. Die Teamer:innen der Workshops bekommen eine Aufwandsentschädigung und Honorare. Die jungen Leute bei der Bildungsinitiative sind Expert:innen, weil sie aus der Betroffenenperspektive sprechen. Aber sie hatten keine Erfahrungen im Leiten von Workshops, deshalb sollten sie zunächst eine Grundlagenausbildung als Demokratietrainer:innen erhalten. Zuerst erfolgte sie bei der Bildungsstätte Anne Frank, jetzt haben wir die Möglichkeit, diese Grundlagenausbildung intern anzubieten.

Wie finanziert ihr eure Arbeit?

Ohne die Spenden der solidarischen Zivilgesellschaft könnten wir die Arbeit in diesem Umfang nicht machen. Wir haben Fördergelder über „Demokratie leben“ in Berlin und auch die DEXT-Fachstelle in Hanau unterstützt uns. Aber es reicht nicht aus. Die zwei halben Stellen sind zu wenig, wir bräuchten eigentlich vier bis fünf Stellen in Vollzeit. Deshalb kämpfen wir gerade auch um eine langfristige staatliche Förderung. Wir sind im Gespräch wegen Landes- und Bundesmitteln und wollen Modellprojekt von „Demokratie leben“ werden. Dann wären wir fünf Jahre in dem Maße abgesichert, wie es nötig ist.

Wie kommt ihr in Kontakt mit den Schulen?

Rund 80 Prozent der Anfragen kommen von Lehrer:innen oder Schüler:innen. Und zwar deutschlandweit, auch in Berlin, Hamburg, München und im Osten. Wir wünschen uns aber, dass noch mehr Schulen auf uns aufmerksam werden und eine langfristige Zusammenarbeit entsteht. Es klappt manchmal gut, manchmal nicht so gut. Es gibt Schulen, wo die Schulleitung oder auch die Mehrheit des Kollegiums keinen Berührungspunkt mit dem Thema haben. Es gibt viele Schulen in Hanau, auf die wir zugegangen sind und die nicht reagiert haben. Und das, obwohl es direkte Bezüge gibt, wie bei meiner alten Schule, an der auch Ferhats Bruder Abi gemacht hat. Deshalb haben wir begonnen, uns mit den Hanauer Schulsprecher:innen zu vernetzen.

Welche Workshops bietet ihr an und was wollt ihr dort vermitteln?

Aktuell bieten wir drei verschiedene Workshops an und zwar für die Jahrgangsstufen 7 bis 11. Bei einem Workshop geht es um den 19. Februar selbst. Hier berichten wir aus erster Hand, was passiert ist. Bei dem zweiten Workshop geht es um Diskriminierung in ihren verschiedenen Ausformungen, um antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus. Der dritte Workshop thematisiert rassistischen Sprachgebrauch. Sehr oft wird das Thema „Rassistische Berichterstattung in den Medien“ angefragt. Wir erstellen gerade ein Konzept zum Vergleich zwischen der Berichterstattung über die NSU-Morde und der Berichterstattung zu den Morden in Hanau. Bei den NSU-Morden hat man von „Döner-Morden“ gesprochen, obwohl nur zwei der zehn Opfer in Dönerläden gearbeitet haben. In Hanau hat man von „Shisha-Morden“ geredet, obwohl von neun Opfern nur Sedat Gürbüz in einer Shishabar erschossen wurde und zwar in seiner eigenen Bar. Der zweite große Anschlagsort, die Arena Bar, ist bis heute noch keine Shishabar. Das wird aber immer noch reproduziert. Medien haben so die Spaltung in der Gesellschaft vorangetrieben. Shishabars sind vor allem für eine junge migrantische Community ein Safe Space, wo du gerne hingegangen bist. Die wurden zu einem negativen Ort gemacht, an dem Clan-Kriminalität herrscht, wo junge muslimische Männer mit Vollbärten ihr Unwesen treiben. Wir wollen in einem solchen Workshop vermitteln, wie man Quellen auswertet und was da zu beachten ist…

Wie kann ich mir den Ablauf eurer Workshops vorstellen?

Wir sind drei Stunden in der Schulklasse. Unsere Workshops sind sehr interaktiv, denn wir wollen mit der Klasse etwas gemeinsam herausarbeiten, so dass jede und jeder etwas mitnehmen kann. Wir sind immer zu zweit in den Workshops. Eine Person, die schon viel Erfahrung in Bildungsarbeit hat, die muss nicht zwingend aus der Bildungsinitiative selbst sein. Wir haben einen Pool an Referent:innen, Menschen, die mit den Zielen, Konzepten und Werten der Initiative vertraut sind. Die zweite Person ist ein junger Mensch aus der Bildungsinitiative, meistens ein Freund oder Freundin von Ferhat, mit Berührungspunkten zum 19. Februar und mit Betroffenenperspektive. Wichtig ist uns, dass nach dem „peer to peer“-Prinzip junge Leute zu jungen Leuten sprechen.

Wie sind die Reaktionen auf die Workshops?

Die Lehrer:innen sind bei den Workshops nicht dabei. Wir wollen so einen bewertungsfreien Raum schaffen, in dem die Schüler:innen ihre Meinung frei äußern können. Bei den Schüler:innen gibt es eigentlich immer nur Dankbarkeit und vor allem hundertprozentige Aufmerksamkeit. Wir hatten Lehrer:innen, die uns in Vorgesprächen „gewarnt“ hatten, dass der oder die oft nicht zuhört. Das ist dann nie eingetroffen, wir haben diese Probleme nie gehabt. Die Schüler:innen haben eine junge Person vor sich, die selbst Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung macht. Das gilt für die meisten aus der Initiative, wir haben aber auch Weiße in der Initiative, die diese Erfahrungen nicht am eigenen Leib gemacht haben, aber sensibilisiert sind. Das spüren die Schüler:innen: Ich habe da eine junge Person vor mir, die durch diese schreckliche Tat jemanden verloren hat und trotzdem die Kraft findet, weiterzumachen. Das ist es, was wir vermitteln wollen: Wenn wir das können, könnt ihr das auch. Es gibt Schüler:innen, die an unseren Workshops teilgenommen haben und jetzt selbst Workshops für die Bildungsinitiative geben. Wir wollen junge Menschen motivieren, mobilisieren, ihnen eine Stimme geben. Wir arbeiten jetzt auch an einem Konzept zur Sensibilisierung von Lehrer:innen und Erzieher:innen. Man muss sich doch fragen, warum Antirassismus immer noch kein fester Bestandteil des Lehrplans ist. Du hast Lehrer:innen, die sehr gerne etwas dazu tun wollen, aber der Lehrplan gibt das nicht her. Dann geht es höchstens an Projekttagen, aber das ist nicht genug.

Du hast gesagt, dass ihr auch Eltern ansprechen wollt…

Ja, insbesondere Serpil ist es ein großes Anliegen, dass es eine Anlaufstelle für Eltern gibt, insbesondere für Mütter. Das soll jetzt bald losgehen. Serpil hat als alleinerziehende Mutter die Probleme von Ferhat in der Schule erlebt und wusste nicht, wohin sie sich wenden kann. Sie hat sich an die Schule gewendet, wurde abgefrühstückt und in eine Schublade gesteckt. Sie hat dann den Druck an Ferhat weitergegeben: Du musst mehr tun als die anderen, weil du nicht dieselben Chancen hast. Deswegen ist es ihr besonders wichtig, für andere Eltern da zu sein. Wir wollen schauen, in welcher Art und Form wir das hier anbieten können. Einmal oder zweimal die Woche soll es die Möglichkeit geben, bei uns vorzusprechen und Kontakt aufzunehmen. Wenn es Punkte gibt, wo wir nicht weiterhelfen können, wollen wir unsere Vernetzung nutzen, betroffene Eltern weiterzuvermitteln.

Ihr habt in nun knapp eineinhalb Jahren Bildungsinitiative vieles geschafft und habt vieles vor. Was ist dein vorläufiges Resümee?

Ja, wir waren und sind rund um die Uhr damit beschäftigt und müssen auf unsere Grenzen aufpassen, uns nicht selbst überfordern. Es gibt natürlich Punkte, wo wir uns fragen, warum wir das alles machen: Wir sind doch Angehörige, wir haben Wut, wir haben Trauer. Die Verantwortung liegt doch bei ganz anderen Leuten, beim Bildungsministerium, bei der Parteipolitik. Aber wenn wir das schon machen, warum unterstützt man uns dann nicht auf die Weise, wie man unterstützt werden sollte? Warum muss ich als Projektkoordinator dafür kämpfen, die Mittel zu bekommen und auf die Leute zugehen? Und wenn ich auf sie zugehe, warum ist es nicht selbstverständlich, dass man diese Arbeit unterstützt? Das sind Dinge, die wir nicht verstehen. Unser Leben hat sich seit dem 19. Februar 2020 total verändert. Ich habe damals gerade den Bachelor für Wirtschaftswissenschaften gemacht und nie damit gerechnet, dass es in meiner Heimatstadt einen solchen Anschlag geben wird. Alles hat sich verändert, du weißt nicht, wie du mit der Situation umgehen sollst. Ich wollte ein Jahr Pause machen und dann den Master in meinem Studium machen. Es ist dann anders gekommen. Wir sind jetzt in Bereichen, in denen wir vorher nicht waren. Ich habe vorher keine Reden auf Demos gehalten oder Interviews gegeben. Ich war vorher nicht auf Podiumsdiskussionen, wo ich mit Politiker:innen mitdiskutiert habe und meine Meinung gesagt habe und die mir zuhören mussten. Anfangs war es ungewohnt und schwer, aber mittlerweile ist es Normalität geworden. Jetzt sind wir soweit, erhalten sehr viel Zuspruch, tun dies im Gedenken an Ferhat und versuchen, dieser Sache einfach gerecht zu werden.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Kraft und Erfolg für eure Arbeit.


Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar ist eine gemeinnützige Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Eltern, die im Alltag oder in der Schule mit Rassismus konfrontiert sind. Die Bildungsinitiative leistet Empowerment- und Aufklärungsarbeit gegen Rassismus. Die Bildungsinitiative wurde am 14. November 2020 von Serpil Temiz-Unvar gegründet, der Mutter von Ferhat Unvar. Ferhat Unvar wurde bei dem rechtsextrem und rassistisch motivierten Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet. Die Bildungsinitiative wird aus dem Förderprogramm des Bundesfamilienministeriums „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ unterstützt und von der DEXT-Fachstelle Hanau, die den städtischen Gedenkprozess begleitet und sich als Fach- und Informationszentrum mit den Themen Diskriminierung, Rassismus und Extremismus auseinandersetzt.
Andreas Werther, GEW-Referent für Sozialpädagogik und Weiterbildung, sprach mit Ali Yildirim, dem Projektkoordinator der Bildungsinitiative Ferhat Unvar, der ein Kindheitsfreund von Ferhat Unvar ist.