Wenn Schule krank macht

Überlastung und Burnout durch inkompatible Werte

HLZ 11/2021: GEW-Landesdelegiertenversammlung

Der Herbst liegt in den letzen Zügen, die besinnliche Weihnachtszeit droht hereinzubrechen, der frei erfundenen Kollegin Anya Schulmeister graut davor, wie jedes Jahr. Schnell alle Klausuren erledigen, bloß keine Wiederholung riskieren, mündliche Noten machen, für den Wettbewerb, der keiner mehr ist, teaching to the test betreiben, die vielen Förderpläne, Konferenzen, gestresste Schülerinnen und Schüler, Corona wird nebenher gewuppt, unzufriedene Eltern, schwer beschulbare Kinder in praktisch jeder Klasse und und und. Zwischendurch meldet sich die erste Erkältung an, der Rücken schmerzt und ab und an gibt es da auch eine Stimme, die fragt: „War es das, was Du tun wolltest?“ Keine Zeit für Fragen, keine Zeit für Antworten, wie jedes Jahr?

So oder ähnlich geht es vielen Kolleginnen und Kollegen. Irgendwie weiß jeder, dass der reale Irrsinn an deutschen Schulen mittlerweile unglaubliche Ausmaße angenommen hat, es sei denn, man fragt die Verantwortlichen in den Ministerien. Hier ist dann von Effizienzsteigerung die Rede, Zufriedenheit mit der neuen Transparenz des Schulsystems und den vielen guten Abiturabschlüssen. Als Lehrkraft müsse man halt ein besseres Zeitmanagement lernen, Probleme in der Umsetzung von Erlassen werden über Fortbildungen gelöst. Fragt man in den Kollegien herum, berichtet eigentlich jeder von Überlastung. Allerdings scheinen manche dennoch gut klar zu kommen und gesund zu bleiben, andere wiederum leiden stark, werden krank und fallen aus. Sind erstere harte Knochen und letztere einfach zu weich?

Seit ich selbst als wertorientierter Coach tätig bin, weiß ich, dass die Voraussetzungen für eine hohe oder für eine unzureichende Resilienz ganz woanders liegen: Sie hängen eng mit unserer Persönlichkeit zusammen, an der wir an sich nichts ändern können.

Was sind wirkliche Werte?

Was im Leben ein Wert ist und was nicht, kann für jeden etwas anderes bedeuten. Das ist sicher keine Überraschung, wie wichtig das aber ist, damit hat sich u.a. der Begründer der CoachAkademieSchweiz Rudolf E. Fitz intensiv auseinandergesetzt. Nach seinen Erfahrungen war ein zielorientiertes Coaching trotz kurzfristiger Erfolge bei zwei Dritteln seiner Klientinnen und Klienten langfristig wirkungslos. Was war es also, was es manchen Menschen ermöglichte, ihre Erfolge zu festigen und so vielen nicht? Seine Antwort: Es sind die persönlichen Werte, die mit allen Zielen und auch Problemen verknüpft sind.

Dazu ein banales Beispiel: Wenn jemand Arzt wird, weil er viel Geld verdienen will, und gleichzeitig als wirklichen Wert die Gesundheit seiner Mitmenschen in sich trägt, dann kann das zu großen inneren Konflikten führen, z.B. dann, wenn lukrative Operationen eigentlich nutzlos sind. In Ex-tremfällen sind Menschen bereit, für ihre wirklichen Werte zu sterben.

Dass Menschen selbst allergrößte Strapazen geistig gesund überstehen können, wenn sie es schaffen, ihre wirklichen Werte zu leben, zeigt sich unter anderem auch in dem beeindruckenden Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen“ des Psychiaters Victor E. Frankl aus seiner Zeit als KZ-Häftling. Rudolf E. Fitz wurde auch durch seine Geschichte inspiriert, ein ganz neues wertorientiertes systemisches Coaching zu entwickeln.

Was die eigenen wirklichen Werte sind, ist allerdings gar nicht so klar, wie man meinen möchte. Sie liegen in der Regel verborgen im Unbewussten, überlagert von Strategien, Zielvorstellungen, Problemen und jeder Menge Fremdeinflüssen. Wirkliche Werte lassen sich auch nicht ändern, man kann sie sich nicht zulegen oder sie abstreifen, wie man das mit Zielen schon eher tun kann. Stattdessen bilden sie sich bereits in frühkindlichen Phasen, seien sie nun angeboren oder durch unsere Vorbilder vermittelt. Auf alle Fälle wirken sie aber schon unser ganzes Erwachsenenleben und man darf davon ausgehen, dass sie uns in unseren Entscheidungen, gerade den beruflichen, stark beeinflussen, wie im vorher genannten Beispiel des Arztes.

Pädagogische Werte ...

Welche Werte tragen nun Lehrerinnen und Lehrer in sich? Das können Werte sein wie Bildung, Hilfsbereitschaft, soziale Sicherheit, Anerkennung, Abgrenzung, Kreativität oder eben auch Gesundheit. Die Liste ist sicher unvollständig, mit jeder Klientin, jedem Klienten aus dem Bereich Schule kann hier ein neuer Wert hinzukommen.

Entscheidungen der Berufswahl trifft man immer unter der Prämisse, wie man sich den Beruf vorstellt und nicht, wie er nachher wirklich ist. Dabei dürfte entscheidend sein, wie sich der spätere Beruf für uns darstellt und hier kommt auch die Außendarstellung der späteren Arbeitgeber ins Spiel. Die Organisationen im Bildungsbereich werben regelmäßig mit den Werten Bildung, soziale Verantwortung, Erlangung von Selbstständigkeit, Mündigkeit und anderen humanistischen Idealen. Somit dürfte es vorprogrammiert sein, dass zukünftige Kolleginnen und Kollegen, die das
als wirkliche Werte in sich tragen, davon angezogen werden, wie das uns früher sicher auch so gegangen ist.

Sobald man im System Schule ist, lassen sich manche dieser wirklichen Werte sicher nach wie vor leben, was einen sehr resilient gegenüber Stress macht. Allerdings werden zunehmend andere Werte, vor allem von Seiten der Schulorganisation, in die Schulen getragen, die solche Werte teilweise gar negieren. Hier geht es mehr um Effizienz, Planbarkeit, Transparenz, Vergleichbarkeit, Ergebnisorientiertheit im Sinne guter Noten oder Zufriedenheit vor allem von Eltern, aber auch der Schülerschaft, Werte, die im Schulalltag dann tatsächlich bei einem Großteil der täglichen Arbeit eine Rolle spielen.

... und die Werte des Systems

Man kann sich nun leicht vorstellen, dass es bei der Unterschiedlichkeit der wirklichen Werte im Kollegium und der wahrhaftig im System geforderten zu massiven und permanenten Wertekonflikten kommen kann. Schon der Dauerstress macht insbesondere Kolleginnen und Kollegen mit dem wirklichen Wert Gesundheit mehr zu schaffen als anderen, da diese ja permanent in Gefahr ist. Selbst identisch scheinende Ziele bergen Zündstoff: So kann ein den Wert Bildung lebender Lehrer als Ziel gute Noten seiner Schülerinnen und Schüler haben, werden von der Administration dann aber vor allem die Noten als Gradmesser für Erfolg herangezogen, kommt es dennoch zum Konflikt. Denn benanntem Kollegen ist es keineswegs egal, wie er das Ziel erreicht, sieht sich aber mit anderen verglichen, die den Noten alles, was ihm lieb und teuer ist, unterordnen, wodurch er eine Wertverletzung erleidet. Man kann aber auch sehen, dass es manchen Kolleginnen und Kollegen gelingt, sich im System Schule Inseln zu schaffen, in denen sie ihre Werte leben können. Genau das macht sie gegenüber Stress weitaus resilienter als andere und nicht etwa eine besondere Härte.

Die Folgen permanent verletzter wirklicher Werte sind in der Regel Stresssymptome aller Art wie Gefühle von Sinnlosigkeit, Ängste, Schlafstörungen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen wie Rückenleiden oder Herzproblemen, die schließlich auch pathologisch werden können. Die vorgegebenen Werte werden von einem Großteil des Kollegiums nur als Belastungen empfunden, was nahe legt, dass sie wirklichen Werten im Weg stehen. Auch dadurch leidet der Schulbetrieb unter häufigen krankheitsbedingten Ausfällen und vielen Konflikten innerhalb des Kollegiums. Insgesamt kann man also sagen, dass keiner der Beteiligten von einer Diskrepanz zwischen wirklichen Werten der Menschen im System und den im Alltag geforderten Werten profitiert.

In einer perfekten Welt

In einer perfekten Welt würden sowohl die Betroffenen im System als auch die Verantwortlichen erkennen, dass sie zunächst Werte entwickeln müssten, die auf die jeweilige Organisation passen, statt völlig systemfremde Werte oder Ziele zu übernehmen. Wenn diese durch den Einfluss der wirklichen Werte auf die Berufswahl dann von der Mehrheit gelebt werden könnten und man auch für die Menschen eine Lösung findet, die diese Werte nicht teilen, wäre mit Sicherheit immens viel gewonnen. Darüber hinaus würden solche Werte im System Schule auch einen politischen, gesellschaftlichen Konsens finden. Das klingt utopisch, wäre meiner Ansicht nach aber ein erstrebenswertes und vor allem werterfüllendes Ziel.

Bis es soweit ist, kann sich jeder Betroffene dennoch Erleichterung verschaffen und gleichzeitig die Möglichkeit erhalten, im System selbst Veränderungen anzustoßen. Der erste Schritt dabei ist meiner Erkenntnis nach der, die eigenen wirklichen Werte zu erkennen. Der Weg dahin führt in jedem Fall durch die Grenze zwischen dem Bewussten und dem Unterbewussten in Richtung Persönlichkeitskern, es bleibt also die Wahl der Methode. Eine Möglichkeit ist ein wertorientiertes systemisches Coaching, das dominante wirkliche Werte und den Zusammenhang mit nicht erreichten Zielen offenlegt und es möglich macht, belastende eigene Muster zu durchbrechen. Wenn es gelingt, wenigstens im Kleinen, das umgebende System zu sensibilisieren oder gar zu beeinflussen, kann man auch nach außen eine Verbesserung bewirken. Es gibt aber auch Fälle, in denen man erkennen wird, dass die eigenen Werte zu wenig vereinbar mit den im System geforderten sind, so wie es mir als Lehrer ergangen ist. In dem Falle hilft meiner Ansicht nach nur, sich aus einer solchen Umgebung herauszunehmen.

Gemeinsam handeln!

Einen anderen Weg kann man nur mit anderen gemeinsam gehen: Die Wertekollisionen im Schulalltag publik machen und die Schulpolitik wenigstens da zu einem Umdenken bringen, wo die geforderten Werte in einem klaren Widerspruch zu unserem eigentlichen pädagogischen Auftrag stehen, wie es die GEW schon seit Jahren praktiziert.

Dr. Ralf Pfleiderer

Informationen zu den von Ralf Pfleiderer eingesetzten Coaching-Methoden findet man unter https://rp-coaching.today.

Foto: canva.com | Kaspars Grinvalds