Der Fall Hans Wedel

Droht eine Rückkehr zu den Berufsverboten der siebziger Jahre?

HLZ 5/2019: 70 Jahre Grundgesetz

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ (Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz)

Am 13. Februar 2019 informierte die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „Radikalenerlass 2.0?“ über die Absicht von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), die Vereinbarkeit bestimmter Parteimitgliedschaften mit dem Beamtenstatus prüfen zu lassen. Diese Prüfung solle „ganz generell für Rechts- wie für Linksradikale“ gelten. Spontane Zustimmung kam von AfD-Chef Meuthen umd vom Deutschen Beamtenbund. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Sensburg schob die Forderung nach, neben der AfD künftig auch linke Gruppen und Organisationen stärker unter die Lupe zu nehmen.
Grund genug, an den 28. Januar 1972 zu erinnern, als die Ministerpräsidenten der Länder Grundsätze verabschiedeten, um „Verfassungsfeinde“ aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten oder zu entfernen. Dieser „Radikalenerlass“ traf zu mehr als 90 Prozent Kolleginnen und Kollegen aus dem linken Spektrum, die Mitglieder legaler Parteien und Gruppen waren oder mit ihnen sympathisierten. Von den Berufsverboten waren vor allem Lehrerinnen und Lehrer betroffen, die durch den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze innerhalb der Studentenbewegung politisiert waren. Mit ihren linken, kritischen Auffassungen sollten die Schülerinnen und Schüler möglichst nicht in Berührung kommen.
Diese Praxis der Gesinnungsschnüffelei, der politischen Verdächtigung und Verfolgung und der Berufsverbote könnte nun wieder aufleben. Die Erfahrungen der 70er und 80er Jahre haben den Blick für diese Gefahr, für die Bedrohung der demokratischen und verfassungsmäßigen Rechte geschärft, und so werden hoffentlich die reaktionären Bestrebungen auf großen Widerstand stoßen. Dass Widerstand möglich war und auch zum Erfolg führen kann, zeigt meine eigene Berufsbiografie.
McCarthyismus in der BRD
Mein „Fall“ begann am 23. Juni 1977 mit einem Schreiben des Regierungspräsidenten (RP) in Darmstadt. Auf den Antrag des Schulleiters, mich vorzeitig auf Lebenszeit zu verbeamten, reagierte die Schulaufsicht mit sechs Fragen. Mit fünf Fragen wollte sie ermitteln, was ich mit der KPD/ML zu tun hätte, die sechste fragte nach meiner Bereitschaft, mich durch mein „gesamtes Verhalten zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten“. Vom Ergebnis der Überprüfung meiner Angaben werde meine „Weiterbeschäftigung im Dienst des Landes Hessen abhängen“. Die Zweifel an meiner Verfassungstreue wurden mit zwei „offen verwertbaren“ Erkenntnissen des Landesamtes für Verfassungsschutz begründet: Zum einen sei ich bei einer Veranstaltung der KPD/ML „in Erscheinung“ getreten, ein anderes Mal sei mein Auto „in unmittelbarer Nähe des Veranstaltungslokals festgestellt worden“.
Im Frühjahr 1978 griff das 3. Russell-Tribunal „Zur Situation der Menschenrechte in der BRD“ meinen Fall auf (1). Jury-Mitglied Claude Bourdet stellte eine Parallele zum Antikommunismus in den USA in den Jahren 1947 bis 1956 her, der eng mit dem Namen des Senators Joseph McCarthy verbunden ist. Für eine Entlassung aus dem Staatsdienst oder für eine Verfemung als Schauspieler, Schriftsteller oder Regisseur war es nicht mehr erforderlich, eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei nachzuweisen (guilty by membership), sondern es genügte, irgend eine Beziehung zu ihr zu haben (guilty by association). Die Folge war eine Flut von Verdächtigungen, Bespitzelungen und Denunziationen, die als McCarthyismus einer ganzen Ära den Namen gegeben hat.
Die andere Seite der Medaille sind Unterstützung, Solidarität und Widerstand, wie ich sie zwischen Juni 1977 und dem Zeitpunkt meiner endgültigen Übernahme in das Beamtenverhältnis am 2. Januar 1980 erleben durfte: durch gewerkschaftliche Gruppen und Organe, durch Personalräte, durch Hunderte von Kolleginnen, Kollegen, Schülerinnen, Schüler und Einzelpersonen, durch politische Organisationen, durch die mediale Öffentlichkeit und schließlich durch die Internationalisierung des Falles durch das Russell-Tribunal.
Solidarität braucht Öffentlichkeit
Nachdem ich das Schreiben des RP erhalten hatte, informierte ich zunächst die GEW-Schulgruppe der Helmholtzschule, eine aktive Schulgruppe, die sich regelmäßig traf. Mitglieder benachrichtigten Schülerinnen und Schüler und damit auch die Schülervertretung (SV). Schon nach 14 Tagen lag eine Resolution mit den Forderungen vor, die im weiteren Unterstützungsprozess immer wieder erhoben und veröffentlicht wurden: sofortige Einstellung des Verfahrens, sofortige Übernahme ins Beamtenverhältnis auf Lebenszeit und keine Überprüfung der Gesinnung und Disziplinierung von Lehrkräften aus politischen Gründen. Die SV initiierte eine Unterschriftensammlung in der auf meine Arbeit als Verbindungslehrer hingewiesen wurde (Foto Seite 15). In meinem Unterricht könne „frei und offen über alles diskutiert werden, wobei auch Unterrichtskritik möglich ist.“ Der Personalrat der Helmholtzschule wies in einem Schreiben an den RP darauf hin, dass ich „mit betonter Sorgfalt, engagiert und aufgeschlossen für die Belange der Kollegen und Schüler“ meiner Arbeit nachgehe. Dem Brief schlossen sich viele Kolleginnen und Kollegen an, auch aus dem damals noch dominierenden Philologenverband, die den gewerkschaftlichen und politischen Forderungen der GEW eher ablehnend gegenüberstanden. Später schloss sich auch die Elternschaft an.
Eine einstimmig beschlossene Solidaritätserklärung der Vertreterversammlung des GEW-Bezirksverbands Frankfurt forderte den GEW-Landesverband zur Unterstützung auf, der mit einer Presseerklärung reagierte. Der damalige GEW-Vorsitzende Alfred Harnischfeger wurde im Kultusministerium vorstellig, viele Kreisverbände der GEW schickten uns volle Unterschriftenlisten zu. Am 3. August 1977 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau (FR) einen Artikel über die Sachlage und meine Antwort an den Regierungspräsidenten. Der von der FR veröffentlichte Fragenkatalog des RP habe bei der GEW „Empörung“ ausgelöst.
Mit einer Antwort ließ sich das RP dann erst einmal Zeit bis zum 13. Januar 1978: Die Zweifel an meiner Verfassungstreue seien „noch nicht endgültig ausgeräumt“, deshalb werde die Entscheidung über meine Weiterbeschäftigung als Lehrer erst „vor Ablauf der um zwei Jahre verlängerten und damit gesetzlich voll ausgeschöpften Probezeit“ getroffen.
Auf meine Argumente und Fragen zum Politik- und Verfassungsverständnis der Kultusbürokratie ging die Behörde nicht ein, auch nicht auf die Richtigstellung unzutreffender Behauptungen (siehe Kasten). Der Berichterstatter des Russell-Tribunals sprach am 16. März 1978 von einer „Groteske“:
„Gerade in ihrer Irrationalität und Unberechenbarkeit entfalten solche Maßnahmen (…) ihre Funktion. Sie sollen Lehrer und Schüler gleichermaßen verunsichern und einschüchtern und ihnen signalisieren, dass es riskant ist, sich eine eigene Meinung außerhalb des staatlich zugelassenen Credos zu bilden. Sie sollen zugleich aber Kontaktangst schaffen gegenüber jedem, der sich zu prinzipiell oppositionellen Positionen bekennt.“
Solidarität führte zum Erfolg
Gegen die Verlängerung der Probezeit legte ich Rechtsmittel ein. Doch erst weitere „offene Briefe“ der GEW-Schulgruppe an Ministerpräsident Holger Börner (SPD) und Kultusminister Hans Krollmann (SPD) und weitere Berichte in der Presse führten dazu, dass die Verlängerung der Probezeit um ein Jahr verkürzt wurde. Als auch dieser Zeitraum verstrich, wandte sich der Personalrat der Schule zur Abwechslung einmal an Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry (FDP) und bat ihn „als ehemaligen Helmholtzschüler, sich im Kabinett für die umgehende Verbeamtung des Kollegen Wedel einzusetzen“. Am 2. Januar 1980 traf – ohne weitere Erklärung – die Ernennungsurkunde in der Schule ein.
Eine 50-seitige Dokumentation des Bezirksvorstands der GEW Frankfurt fand reißenden Absatz und sorgte dafür, dass sich die Öffentlichkeit ein Bild von der behördlichen Handhabung des „Radikalenerlasses“ und den Verstößen gegen die Grundrechte der Meinungs-, Berufs- und Wissenschaftsfreiheit machen konnte, aber auch von den Möglichkeiten solidarischen Widerstands in Schule und Gewerkschaft.
Auch viele andere von Berufsverboten betroffene Kolleginnen und Kollegen erfuhren diese solidarische Unterstützung, die allerdings oft nicht zum Erfolg führte. Dazu trugen auch die Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Ausschlussverfahren der DGB-Gewerkschaften bei. Trotzdem führten der breite Widerstand fortschrittlicher Kräfte, die sich die Verteidigung demokratischer verfassungsmäßiger Rechte auf die Fahnen geschrieben haben, und die vielseitige Öffentlichkeitsarbeit mit der Skandalisierung vieler „Fälle“ letztlich zum Erfolg. Der Widerstand gegen Gesinnungsschnüffelei und Berufsverbote nahm mit der Zeit so massiv zu, dass der Ministerpräsidentenerlass und die Regelanfrage beim Verfassungsschutz nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten.

Hans Wedel

(1) Das erste Russell-Tribunal, das von dem britischen Mathematiker, Philosophen und Literaturnobelpreisträger Bertrand Lord Russell initiiert wurde, befasste sich1966/67 mit Kriegsverbrechen der USA im Vietnamkrieg. Nach dem Tod Russells gab es weitere Tribunale zu Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika und Südafrika (1973-1976) und zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland (1978-1979).
Kasten
Was ist „Verfassungstreue“?
Im Juli 1977 antwortete Hans Wedel auf die Fragen des RP mit der Gegenfrage, wann ein Lehrer „verfassungstreu“ ist.
Heißt Verfassungstreue einers Lehrers,
„gegenüber Kommunisten eine Berührungsangst solcher Art zu entwickeln, dass er ihr öffentliches Auftreten nur aus der Ferne oder überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen sollte?
sich mit Theorie und Praxis von Kommunisten allenfalls auf der Grundlage sekundärer Informationsquellen oder Interpretationen auseinanderzusetzen, oder erübrigt sich eine kritische Auseinandersetzung von vornherein?
von der Möglichkeit der freien Information und der offenen Auseinandersetzung mit weltanschaulichen und politischen Auffassungen nur dann Gebrauch zu machen, wenn diese von der jeweiligen Regierung als gesellschafts- oder verfassungskonform angesehen werden, darauf aber zu verzichten, wenn sie als nonkonformistisch, radikal oder kommunistisch gewertet werden?“
Heute, nach 40 Jahren und nach weiteren globalen finanz- und wirtschaftspolitischen Krisen, fügt Hans Wedel die Frage hinzu, ob sich eine Lehrkraft nur dann verfassungskonform verhält, „wenn sie die bestehende kapitalistische Wirtschafts- und Finanzordnung für alternativlos und die Frage nach Alternativen bereits für einen Verstoß gegen die ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ hält“.