Diagnose Magersucht

Unternehmerverbände: Kürzen bei der Bildung und der Polizei

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Anlässlich der Landtagswahl im kommenden Jahr hat die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) – die VhU ist die hessische Landesvertretung von BDA und BDI – Mitte Mai ein Positionspapier veröffentlicht.(1) Dieses im VhU-Präsidium verabschiedete Papier stellt vermutlich alle je zum hessischen Landeshaushalt verfassten Spar- und Kürzungsempfehlungen in den Schatten. Selbst Roland Kochs so genannte „Operation Sichere Zukunft“ aus dem Jahr 2004 erscheint dagegen als sozialpolitisch ausgewogen.
 

Zentraler Orientierungspunkt der VhU ist das Werk des marktradikalen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Der Staat solle, so die VhU, für mehr Markt sorgen, um im Sinne Hayeks den „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ abzusichern. Die Unternehmen benötigten einen „schlanken Staat“, mit effizient arbeitenden Behörden. Den „schlanken Staat“ sieht die VhU durch einen „sichtbaren Trend zur Staatswirtschaft“ auf allen föderalen Ebenen gefährdet. Dieser hemme die privatwirtschaftliche Initiative und müsse unbedingt gestoppt werden.
 

Sorgen bereitet der VhU insbesondere die gestiegene Staatsverschuldung, wozu sie das häufig herangezogene „Generationenargument“ bemüht. Danach lebten heutige Generationen durch schuldenfinanzierte Leistungen auf Kosten zukünftiger Generationen: Während die gegenwärtige Generation in den Genuss der staatlichen Leistungen komme, müsse die später anfallende Zahllast in Form von Steuern für Zins und Tilgung von nachfolgenden Generationen aufgebracht werden. Diese Argumentation bildete die wesentliche Grundlage für die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz im Jahr 2009 und in der Hessischen Landesverfassung im Jahr 2011.
 

Auch wenn das Generationenargument nach wie vor sehr beliebt ist, um einem Abbau staatlicher Leistungen das Wort zu reden, so ist es doch ökonomisch nicht haltbar. Denn im Falle der Staatsverschuldung werden – sieht man von Auslandsverschuldung ab – von einer Generation zur anderen nicht nur Zahlungsverpflichtungen, sondern auch die entsprechenden Ansprüche auf Zahlung in Form von Vermögenstiteln weitergegeben. Defizitfinanzierte Staatsausgaben legen zwar bestimmte Zahlungsströme für die Zukunft fest (ein Teil der Einnahmen des Staates fließt an dessen Gläubiger), doch eine einseitige „Vererbung“ nur von zu bedienenden Schulden findet nicht statt. Und selbst wenn der Staat isoliert in seiner Position als Schuldner betrachtet wird, muss doch berücksichtigt werden, dass dieser, falls er mittels Staatsverschuldung öffentliche Investitionen tätigt, auch Vermögenswerte schafft. Und auch diese, etwa öffentliches Infrastrukturkapital in Form von Schulgebäuden, werden „vererbt“ und müssen der reinen Zahllast gegengerechnet werden.
 

Um die Einhaltung der Schuldenbremse zu erreichen und den Staat schlank zu machen, stellt die VhU ganz konkrete Anforderungen an die Haushaltspolitik. Die Schuldenbremse müsse eingehalten und dürfe auf keinen Fall umgangen werden. Die Corona-Schulden müssten schneller getilgt werden als vorgesehen, der Tilgungszeitraum solle von 22 auf zehn Jahre sinken. Allein diese Maßnahme würde den Ausgabenspielraum in den kommenden vier Jahren um 230 Millionen Euro verringern. Zum Vergleich: Die Bezahlung nach A 13 im Grundschulbereich würde rund 70 bis 80 Millionen Euro kosten.
 

Um die Landesfinanzen zu sanieren, schlägt die VhU allen Ernstes vor, ab 2024 „mindestens zwei oder drei Nullrunden für alle Ausgaben“ zu fahren. VhU-Präsident Wolf Matthias Mang konkretisierte dies in seinem Presse­statement zum VhU-Papier: „Auch frei werdende Stellen, leider auch von Lehrern und Polizisten, werden einige Zeit lang nicht wieder zu besetzen sein, um die Personalausgaben insgesamt zu deckeln.“ Nach erfolgreicher Konsolidierung stehen dann Unternehmenssteuersenkungen ganz oben auf der Wunschliste der VhU.
 

Neoliberale Mottenkiste

Die VhU-Forderungen nach einer derart brachialen Spar- und Kürzungspolitik blenden sämtliche Folgen etwa für den Schulbereich in Hessen aus und sie werden nicht einmal ansatzweise diskutiert. So würde die Nichtbesetzung von Stellen, die durch Ruhestand, Auslaufen von Verträgen oder Wohnortwechsel frei werden, die sowieso schon sehr hohe Arbeitsbelastung der Lehrkräfte weiter steigern. Hessen geriete dadurch gegenüber allen anderen Bundesländern so weit ins Hintertreffen, dass nach den VhU-Nullrunden kaum eine frisch ausgebildete Lehrkraft den Wunsch verspüren würde, in Hessen zu arbeiten. Freuen würden sich alle anderen Bundesländer, die so ihren Lehrkräftemangel auf Kosten von Hessen ein Stück weit mildern könnten.
 

Kein Thema im VhU-Papier ist die Tatsache, dass von den kreditfinanzierten staatlichen Ausgaben zur Krisenbekämpfung gerade der Unternehmenssektor profitiert hat und dass so viele Unternehmen vor dem Bankrott gerettet wurden. Aktuell erzielen viele Unternehmen Extraprofite aufgrund der Folgen des Ukraine-Krieges, während die Reallöhne auf breiter Front inflationsbedingt sinken. Um Verteilungsfragen macht die hessische Unternehmervereinigung im Übrigen ganz grundsätzlich einen großen Bogen: Weder verliert die VhU ein Wort zur aktuellen Krisenlage, in der vor allem die unteren Einkommensschichten zu den Verliererinnen und Verlierern zählen, noch interessiert sie die langfristige Zunahme der Armut. Und auch die gerade in Deutschland sehr hohe Ungleichverteilung von Vermögen ist für die VhU mit Blick auf die Staatsfinanzierung kein Thema. Vielmehr wünscht sie sich weitere Entlastungen für Unternehmenserben bei der Erbschaftssteuer, obwohl diese in Deutschland gerade für große Vermögen sowieso nur den Charakter einer Bagatellsteuer hat.
 

Nicht begründbar ist im Übrigen der Vorschlag der VhU, die zuletzt aufgenommene Staatsverschuldung so schnell wie möglich abzubauen. Dies wäre selbst im Rahmen der Schuldenbremse mit einer vollkommen überflüssigen Einschränkung des Ausgabenspielraums verbunden: Der Maßstab für die Tragfähigkeit der Staatschulden ist nicht deren absolute Höhe, sondern die Schuldenstandsquote, also das Verhältnis von Staatsverschuldung zur Wirtschaftsleistung. Ein Blick auf die deutsche Schuldenstandsquote zeigt, dass seit Beginn der Corona-Krise kein dramatischer Anstieg zu verzeichnen ist. Der Wert der Schuldenstandsquote beläuft sich zurzeit auf rund 70 Prozent. Sie ist damit auch im internationalen Vergleich nicht dramatisch hoch und liegt sogar um gut zehn Prozent unter dem Wert, den sie nach der internationalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise ab 2008 erreicht hatte. Und auch in Hessen liegt die Schuldenstandsquote des Kernhaushalts derzeit unter den Höchstwerten der Jahre 2011 und 2012. Zudem ist davon auszugehen, dass die Staatsverschuldung durch das Wirtschaftswachstum in der nächsten Zeit wieder sinken wird.
 

Mit Blick auf die kommenden Jahre steht die öffentliche Hand – und das gilt auch für das Bundesland Hessen – vor großen Herausforderungen. So besteht ein erheblicher Investitionsstau z.B. im Bereich der Bildungsinfrastruktur und bei der Bewältigung der sozial-ökologischen Transformation. Nach Einschätzung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung liegt der Gesamtbedarf für öffentliche Investitionen und Investitionsförderung in einer Größenordnung von 600 bis 800 Mrd. Euro über zehn Jahre, der insbesondere beim Bund und den Kommunen anfällt. (3) Zudem sind in Deutschland große Teile der personenbezogenen, staatlich bereitgestellten oder finanzierten Dienstleistungen – zu nennen ist hier neben dem Bildungsbereich insbesondere der Bereich Gesundheit und Pflege – strukturell unterfinanziert. Hier bestehen Personalengpässe, die Arbeitsbedingungen sind schlecht und häufig ist die Entlohnung nicht angemessen.
 

Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen aber helfen keine Nullrunden im Sinne der VhU. Ein Verzicht auf einen deutlichen Anstieg der staatlichen Ausgaben – finanziert durch Kredite und eine sozial ausgewogene Steuerpolitik – würde auf lange Sicht wesentlich teurer werden. Denn dann drohen etwa massive Umweltschäden, die letztlich in erheblichem Umfang von der öffentlichen Hand getragen werden müssen. Wenn sie denn dann überhaupt noch zu regulieren sind...

Kai Eicker-Wolf


(1) Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände, Erwartungen der hessischen Wirtschaft an die Politik nach der Landtagswahl in Hessen 2023. Beschluss Nr.2 des VhU-Präsidiums vom 16.5.2022.
(2) Die Pressemeldung der VhU ist im Internet nicht mehr zu finden. Allerdings finden sich Passagen hiervon in Presseartikeln, z.B. in Hanning Voigts, Unternehmerverbände fordern strikten Sparkurs, Frankfurter Rundschau vom 17.5.2022.
(3) vgl. Sebastian Dullien u.a., Transformative Weichenstellungen. Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2022, IMK Report 173, Januar 2022.