Kinder und Jugendliche in Risikolagen

Der Bildungsbericht 2022 zeigt Handlungsbedarfe auf

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Das erste Kapitel skizziert das „Spannungsfeld veränderter Rahmenbedingungen“, unter denen Bildung stattfindet. Neben der Demografie und der wirtschaftlichen Entwicklung werden auch die Familien- und Lebensformen analysiert. Bei Kindern und Jugendlichen aus „Familien mit Risikolagen“  wird zwischen einer bildungsbezogenen, einer sozialen und einer finanziellen Risikolage unterschieden. Alle drei haben gemeinsam, dass sie die Lernvoraussetzungen negativ beeinflussen können:

  • Eine bildungsbezogene Risikolage liegt vor, wenn alle Elternteile im Haushalt über einen niedrigen Bildungsstand verfügen. Daraus können sich etwa geringere Unterstützungsmöglichkeiten in schulischen Belangen ergeben, wie sie unter den Bedingungen des Distanzlernens während der Corona-Pandemie unerlässlich waren.
  • Eine soziale Risikolage besteht, wenn kein Elternteil erwerbstätig ist. Dadurch fehlt ein wichtiger Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, wie sie in berufsbezogenen Netzwerken zu finden sind. Diese können beispielsweise bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen essenziell sein.
  • Eine finanzielle Risikolage wird angenommen, wenn das Haushaltseinkommen unterhalb der sogenannten Armutsgefährdungsgrenze liegt. In diesem Fall ist der Zugang zu privat zu finanzierenden Bildungsangeboten wie Nachhilfe oder Musikschulunterricht stark eingeschränkt.
     

Am größten ist der Anteil der Kinder, die sich in einer finanziellen Risikolage befinden, und er ist weiter angestiegen. Inzwischen ist in Deutschland jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Erstmals betrachtet der Bildungsbericht 2022 nicht nur einen isolierten Zeitpunkt, sondern analysiert auch länger andauernde individuelle Risikolagen, indem ein vierjähriger Zeitraum betrachtet wird. Dabei wird deutlich, dass sich rund ein Drittel aller unter 18-Jährigen in diesem Zeitfenster mindestens zu einem der Befragungszeitpunkte in einer Risikolage befunden hat. Ein erschreckend hoher Anteil von 13 % war durchgehend in mindestens einer Risikolage zu verorten (S. 45-50). Dies bedeutet für das Bildungssystem, dass es mit einem erheblichen Ausmaß an Belastungen umgehen muss, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind. Es gilt, die häufig nicht ausreichend vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten der Familien zu kompensieren. Es muss aber auch festgestellt werden, dass das Bildungssystem die Löcher des Sozialstaates nicht stopfen kann. Sozialpolitische Fortschritte kämen letztendlich auch den Bildungschancen der Kinder in prekären Lebenslagen zu Gute.
 

Der Bildungsbericht betrachtet darüber hinaus die regionale Verbreitung von Risikolagen. Dabei stellt er fest, dass neben den Stadtstaaten Bremen und Berlin die Flächenländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen in allen drei Bereichen oberhalb des Bundesdurchschnitts liegen. Für Hessen wird ein Anteil von 14 % bezüglich der bildungsbezogenen Risikolage genannt. Bei der sozialen Risikolage sind es 11 %, hinsichtlich der finanziellen Risikolage 23 %. Dieses – gerade für ein vergleichsweise reiches Bundesland - besorgniserregende Ergebnis bezüglich der finanziellen Risikolage stimmt mit anderen Untersuchungen überein. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat bereits 2021 die weit verbreitete, zunehmende Kinderarmut in Hessen aufgezeigt. (1)
 

Die vergangenen Jahrzehnte waren durch eine stetige Bildungsexpansion geprägt. So hat sich die durchschnittliche Schulbesuchszeit deutlich verlängert. Zu höheren Abschlüssen hinführende Bildungsgänge fanden immer stärkeren Zuspruch, der Anteil der mittleren und höheren Schulabschlüsse ist deutlich angewachsen. Ebenso hat die Beteiligung an der Hochschulbildung zugenommen, immer mehr akademische Abschlüsse wurden erworben. Der Bildungsbericht gibt zahlreiche Hinweise auf ein Ende dieses gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses. Dies lässt sich beispielsweise daran festmachen, dass der Anteil der Kinder, die nach der Grundschule auf das Gymnasium übergehen, auf erhöhtem Niveau stagniert. Inzwischen scheint mit einem bundesweiten Anteil von 43 % ein Plateau erreicht. In Hessen liegt der Anteil mit 53 % erkennbar höher.
 

Ende der Bildungsexpansion?

Interessant ist der Befund, dass jüngst in einigen Bundesländern, die über ein zweigliedriges Schulsystem verfügen, der Anteil der Übergänge auf das Gymnasium erkennbar zurückgegangen ist. Die Autor:innengruppe kann nicht ausschließen, dass dabei pandemiebedingte Sondereffekte eine Rolle spielen (S.127-128). Dies könnte allerdings auch ein Hinweis darauf sein, dass es so eher gelingt, eine als attraktiv wahrgenommene alternative Schulform zum Gymnasium, die ebenfalls den Weg zum Abitur eröffnet, in der Fläche zu etablieren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Übersichtsdarstellung zu den höchst unterschiedlichen Schulstrukturen in den Bundesländern im Bereich der Sekundarstufe. Die deutliche Mehrzahl verfügt über ein zweigliedriges System. Neben Hessen haben nur noch Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ein „erweitertes traditionelles System“.
 

Auch die erreichten Schulabschlüsse pendelten sich in den vergangenen Jahren auf dem erreichten Niveau ein: Etwa 6 % verlassen das Schulsystem ohne ersten Schulabschluss, also ohne Hauptschulabschluss. In dieser Hinsicht schneidet Hessen besser ab als andere Bundesländer. Ein gutes Fünftel erwirbt den Hauptschulabschluss, gut die Hälfte den mittleren Schulabschluss, also den Realschulabschluss. Ein Zehntel erreicht die Fachhochschulreife, 40 % erreichen die Allgemeine Hochschulreife. Hier werden zeitversetzt erworbene Abschlüsse doppelt gezählt, so dass die Summe über 100 % liegt.
 

Bemerkenswert ist, dass ein nicht unerheblicher und wachsender Anteil der erreichten Abschlüsse auf das Berufsschulsystem entfällt. Dieses spielt also eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Erwerb von allgemeinbildenden Abschlüssen. Das Niveau des erreichten schulischen Abschlusses korrespondiert mit dem sozioökonomischen Status: In der hohen sozialen Herkunftsgruppe erwerben vier von fünf Schülerinnen und Schülern die Allgemeine Hochschulreife, in der niedrigen sozialen Herkunftsgruppe sind es hingegen 31 % (S. 158-161).
 

Die meisten Studienberechtigten nehmen ein Hochschulstudium auf, auch dies in deutlicher Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Mit dem Einpendeln des Anteils der Studienberechtigten bei etwa der Hälfte eines Jahrgangs ist inzwischen der über viele Jahre zu beobachtende Aufwuchs bei den Immatrikulationen zu einem Ende gekommen. Die Bedeutung der Fachhochschulen ist dabei deutlich angewachsen. Der Trend zur Hochschulbildung hat zu Kritik geführt. So warnte etwa Staatsminister a.D. Julian Nida-Rümelin vor einem „Akademisierungswahn“: Die berufliche Bildung werde vernachlässigt, die akademische Bildung immer beliebiger und flacher. (2)
 

Aufschluss darüber, ob eine „strukturelle Überakademisierung“ tatsächlich dazu führt, dass das Hochschulsystem Menschen ausbildet, deren akademische Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt nicht benötigt wird, gewährt eine Untersuchung der ausgeübten Berufe von Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Dabei zeigt sich, dass die Mehrheit einer hochqualifizierten Tätigkeit nachgeht: 61 % sind auf dem Niveau einer „Expertin“ bzw. eines „Experten“ tätig, weitere 25 % auf dem einer „Spezialistin“ bzw. eines „Spezialisten“. Lediglich 13 % sind als „Fachkraft“ eingesetzt und damit in einer Tätigkeit, die formal eine berufliche und keine akademische Qualifikation erfordert (S. 201-218).
 

Fachkräftemangel wächst

Der – inzwischen wohl beendete – Trend zur Akademisierung trifft also auf einen Arbeitsmarkt, der genau diese Qualifikationen einfordert. Die durchaus bestehenden Baustellen im Bereich der beruflichen Bildung werden vom Bildungsbericht gleichwohl keineswegs verleugnet, sondern ebenfalls klar herausgearbeitet (S. 165-192).
 

Der Bildungsbericht widmet sich in jeder Ausgabe einem wechselnden Schwerpunkt, zuletzt war dies „Bildung in einer digitalisierten Welt“. In diesem Jahr wendet er sich dem Bildungspersonal zu. In den vergangenen Jahren hat ein erheblicher Beschäftigungsaufbau stattgefunden, dies gilt vor allem für die frühkindliche Bildung sowie die Hochschulen. An den allgemeinbildenden Schulen und in der Weiterbildung gab es hingegen nur geringfügige Zuwächse, an den berufsbildenden Schulen einen Rückgang. Im Wesentlichen sei dabei die Beschäftigung der Bildungsbeteiligung in den verschiedenen Bereichen gefolgt. Der Beschäftigungszuwachs hat somit nicht zu Verbesserungen des Personalschlüssels geführt (S. 254-266).
 

Erwähnenswert ist darüber hinaus die Auseinandersetzung mit dem zu erwartenden zusätzlichen Fachkräftebedarf, der sich aus der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf eine ganztägige Betreuung von Grundschulkindern ab 2026/27 ergibt. Gerade in den westdeutschen Bundesländern sei von einer erheblichen Lücke zwischen dem bestehenden Betreuungsbedarf und dem aktuellen Angebot auszugehen. Nicht zuletzt die Arbeitsbedingungen und die Vergütung in diesem Bereich könnten darüber entscheiden, ob der zusätzliche Fachkräftebedarf gedeckt werden kann (S. 318).

Roman George


(1) Michael Klundt (2021): Kinderarmut: Hessen vorn? HLZ 11/2021, S. 24-25.
(2) Julian Nida-Rümelin (2014): Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung, Hamburg.