Bildungspolitik

Die Verletzlichkeit der Kinder

Virus deckt Konstruktionsfehler des Bildungssystems auf

HLZ 6/2020

Ein Ergebnis der Corona-Krise steht für Bildungsexperten ziemlich sicher fest: Die Schließung von Kitas und Schulen hat die soziale Ungleichheit und Benachteiligung verschärft.

Wie reagiert die Bildungspolitik darauf?

In einer Erklärung zur Wiederöffnung der Schulen in Nordrhein-Westfalen fordern DGB, GEW, Grundschulverband und die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule gemeinsam mit weiteren Verbänden eine Verstärkung der Chancenungleichheit zu vermeiden und die zentralen Prüfungen auszusetzen. Unter Berücksichtigung herkunftsbedingter Unterschiede dürften die häuslichen Aufgaben während der Zeit der Schulschließungen keinesfalls benotet und für die Versetzungsentscheidungen herangezogen werden. Alle Kinder sollten in die nächste Jahrgangsstufe versetzt und Klassenwiederholungen nur freiwillig ermöglicht werden. Auch die Übergänge in die Sekundarstufen I und II müssten zugunsten der Schülerinnen und Schüler geregelt werden.

Zu diesen Forderungen hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) nicht verhalten. Sie hat lediglich erklärt, dass die Länder mit flexiblen Regelungen sicherstellen werden, „dass alle Schülerinnen und Schüler ihre Prüfungen absolvieren und ihre Abschlüsse im laufenden Schuljahr erreichen können“. Dagegen steht zu erwarten, dass die IT-Lobby es dank Corona sehr viel leichter hat, sich bei der KMK Gehör zu verschaffen.

Die Krise hat offengelegt, dass es bis heute an einer gemeinsamen nachhaltigen Strategie der Länder zur Digitalisierung der Schulen fehlt. Der digitale Ausbau- und Entwicklungsstand in den Ländern, den Kommunen und den Schulen könnte nicht unterschiedlicher sein. Home Schooling hat es an den Tag gebracht: Schulen sind in der Ausstattung und der Nutzung digitaler Werkzeuge unterschiedlich aufgestellt. Aber selbst wenn sie optimal ausgestattet wären und das Lehrpersonal über entsprechende Konzepte verfügte, könnten nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht werden. Computer oder Laptop mit Drucker, WLAN und Internetanschluss sind nicht selbstverständlich in allen Haushalten. Sie müssten kostenlos bereitgestellt werden, damit alle Kinder einen Zugang zu E-Learning erhalten.
Der Ruf nach digitaler Vernetzung ist durch die Schulschließungen so unüberhörbar laut geworden, dass mit großer Sicherheit die Digitalisierung als Gewinner aus der Corona-Krise hervorgehen wird. Angesichts der Macht der kommerziellen Anbieter, die auf den lukrativen digitalen Bildungsmarkt drängen, muss die Bildungspolitik klären, ob sie die Digitalisierung der Schulen als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge ausgestalten und verantworten oder zum Türöffner für Ökonomisierung und Privatisierung der Bildung machen will. Die KMK hat jedenfalls bislang nicht zu erkennen gegeben, wie sie den Appetit der großen IT-Lobbyisten zügeln will.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Das sind nach offiziellen Studien 2,5 Millionen Kinder, unter Berücksichtigung der Dunkelziffer sogar bis zu 4,4 Millionen. Ihre Bildungsbenachteiligung ist offenkundig. Wenn zu der Armutslage noch die geringe Bildung der Eltern hinzukommt, dann sind ihre Chancen auf den Gymnasialbesuch gleich Null, aber dafür sind sie überproportional in der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen vertreten.

Arme Kinder sind besonders verletzlich. Die Corona-Krise trifft sie besonders hart. Der häusliche Stress ist groß, die Eltern sind belastet und können den Kindern bei der Bewältigung von Home Schooling und auferlegter Kontaktsperren weniger unterstützend helfen als sozioökonomisch besser gestellte Eltern.
Wird die Politik die Kinder mit Armutsrisiken in den Blick nehmen, wenn es darum geht, die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen?

Die Entscheidung der Bildungspolitik, die Schulen auf der Basis der Vorschläge von Experten der Leopoldina wieder hochzufahren, beweist das Gegenteil. Auch das hartnäckige Insistieren der hessischen Landesregierung, bei den vierten Klassen der Grundschulen handele es sich um „Abschlussklassen“, ist der in Stein gemeißelten Auslese zehnjähriger Kinder nach Schulformen geschuldet.

Nicht die individuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nach der Krise stehen im Zentrum, sondern die möglichst gezielte Rückkehr zum alten konkurrenzorientierten Schulbetrieb, der mit seinen selektiven Übergängen und Prüfungen die verletzlichen Kinder zu Bildungsverlierern macht. Die Initiatoren der Petition an den Bundestag „Güterabwägung in der Krise: Chancen eröffnen für neue Bildungsmöglichkeiten statt Rückkehr zur alten Schule“ legen genau den Finger in die Wunde.
Dass Ungleichheit und Benachteiligung als Folgen der Corona-Pandemie öffentlich problematisiert werden, hat einen berechtigten Grund. Unabhängig von der derzeitigen Krise erweist sich die strukturelle Ungleichheit des selektiven Bildungssystems längst als gesellschaftliche Hypothek, die soziale Spaltung fördert.

Allen politischen Beteuerungen nach dem PISA-Schock zum Trotz hat sich der enge Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg erhalten, wie die Nationalen Bildungsberichte ausweisen. Das städtische Quartier, in dem ein Kind aufwächst, ist für Sozialwissenschaftler inzwischen zu einem sicheren Indikator für die Bildungsbiografie des Kindes geworden. Eine Verschärfung von Chancenungleichheit muss beunruhigen, weil sie auch die soziale Spaltung verschärft und die demokratische Entwicklung der Gesellschaft in Frage stellt.

Die Corona-Krise hat die Diskussion über grundlegende Veränderungen des Gesundheitswesens befördert. Sie ist auch eine Chance für die gesellschaftliche Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems und über die notwendige Transformation zu einem demokratischen, solidarischen, inklusiven und krisenfesten Schulsystem, das kein Kind zurücklässt. Auf dem Weg zu inklusiver Gleichheit im Sinne der Menschen- und Kinderrechte müssen aussondernde und benachteiligende Strukturen überwunden werden.

Dr. Brigitte Schumann

Foto: peopleimages, istock


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