Bildungspolitik

Schluss mit der Verschleierung des Lehrkräftemangels

Beschluss des Landesvorstands der GEW Hessen vom 30. Januar 2020

Für eine qualifizierte Weiterbildung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in den Lehrerberuf

Die Bildungsforscher Klemm und Zorn gehen in ihrer jüngsten Veröffentlichung davon aus, dass der Lehrkräftemangel insbesondere im Grundschulen noch deutlich gravierender ist und noch stärker wachsen wird als bisher von der Kultusministerkonferenz (KMK) prognostiziert (1). Doch das Hessische Kultusministerium (HKM) steckt den Kopf weiter in den Sand. Das Angebot für Lehrkräfte mit dem Lehramt für Haupt- und Realschulen und Gymnasialen, durch eine Weiterbildung die Lehrbefähigung für Grundschulen oder Förderschulen zu erwerben, wurde nur von wenigen Personen angenommen, die zudem von sehr hohen Belastungen berichten, die Qualifizierungsauflagen neben einer hohen Unterrichtsverpflichtung zu erfüllen.

Wahrheitswidrig behauptete das HKM, man müsse „nur in Ausnahmefällen auf den Einsatz von Quereinsteigern in den Schuldienst zurückgreifen“ und könne „alle zur Verfügung stehenden Stellen mit qualifiziertem Personal besetzen“ (hessenschau vom 20.8.2019).

Auch in den Berichten des HKM an die KMK und in den der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Zahlen wird die tatsächliche Situation in Hessen bewusst verschleiert, so dass Hessen in der Gruppe der Bundesländer geführt wird, in denen kein einziger Seiteneinsteiger im Schuldienst eingestellt wurde (2).

Die GEW Hessen fordert die Hessische Landesregierung auf, endlich eine ungeschminkte, transparente Bilanz über den Einsatz von Lehrkräften vorzulegen, die keine Lehramtsausbildung durchlaufen haben, und konsequente Maßnahmen zur Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte und zur Qualifizierung von Seiteneinsteigern und Quereinsteigern (3) zu ergreifen. Zur geforderten Transparenz gehört es, dass endlich differenzierte Angaben über das Ausbildungsniveau der Lehrkräfte ohne Lehrerausbildung gemacht werden.

Nach den der GEW seit längerem vorliegenden Zahlen ist die Situation vollständig anders als vom HKM bisher dargestellt:

  • Am 1.1.2019 waren 6,6 Prozent der Lehrerstellen an den allgemeinbildenden und berufsbilden Schulen in Hessen mit befristet beschäftigten Personen besetzt. Da ausgebildete Lehrkräfte in Hessen insbesondere im Bereich der Lehrämter für Grundschulen, Haupt-, Real- und Förderschulen und der berufsbildenden Schulen inzwischen fast alle eine unbefristete Stelle bekommen, entspricht dieser Anteil weitgehend dem Anteil der Lehrkräfte, die keine Lehramtsqualifikation haben. Betrachtet man die Zahl der beschäftigten Personen, lag ihr Anteil sogar bei 9,7 Prozent. 
  • Während bis 2019 das HKM gegenüber der Kultusministerkonferenz nur wenige Dutzend Quer- und Seiteneinsteiger gemeldet hatte, räumte es Mitte Januar gegenüber der Presse die Zahl von 4.900 Lehrkräften ein, die über keine Lehramtsbefähigung verfügten und die als Quereinsteiger zu gelten hätten. Neben den offenen Fragen zur Struktur dieser Gruppe (in Bezug auf vorhandenes Ausbildungsniveau, schulformspezifische und regionale Verteilung) besteht Aufklärungsbedarf in Hinblick auf ihre Abgrenzung zur Zahl von 5.700 befristet Beschäftigten, die am 1.1.2019 im Schulbereich nach einer älteren Angabe des HKM beschäftigt waren.
  • Besonders dramatisch ist die Situation an den hessischen Grundschulen. Nach einer Aufstellung des HKM lag der Anteil der Lehrkräfte an Grundschulen, die keine Lehramtsausbildung haben, im Schuljahr 2017/2018 in Hessen bei über 10 Prozent, in den Schulamtsbezirken Frankfurt, Offenbach und Groß-Gerau/Main-Taunus bei rund 20 Prozent. Der GEW sind einzelne Schulen bekannt, an denen der Anteil der Lehrkräfte ohne eine Lehramtsausbildung bei 50 Prozent liegt.
  • Mit besonderer Sorge stellt die GEW fest, dass der Anteil der nicht ausgebildeten Lehrkräfte an Schulen in sozialen Brennpunkten besonders hoch ist. Der generelle Lehrkräftemangel hat inzwischen zur Folge, dass sich viele ausgebildete Lehrkräfte die Schule „aussuchen“ können, so dass der Lehrkräftemangel „die soziale Schieflage an den Grundschulen weiter verstärken“ wird (Klaus Klemm, FR vom 10.9.2019).

Die Situation ist somit komplett anders, als sie vom Kultusministerium dargestellt wird. Die hohe Quote von Quereinsteigern bei der Einstellung von neuen Lehrkräften in Bundesländern wie Berlin (40,1%) oder Sachsen (50,6%) ist darauf zurückzuführen, dass diese Bundesländer mit offenen Karten spielen und im Rahmen von Qualifizierungsangeboten Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger auch als solche benennen und erfassen. Hessen arbeitet dagegen fast ausschließlich mit Vertretungslehrerinnen und Vertretungslehrern, die im Rahmen eines befristeten Vertrags Unterricht erteilen. Einzige Voraussetzung ist die Erteilung einer „Unterrichtserlaubnis“, die in der Regel ohne jede weitere Überprüfung „nach Augenschein“ erteilt wird, wenn sich die Bewerberin oder der Bewerber die Aufgabe zutraut. Irreführend ist auch die Darstellung des HKM, dass man Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger ausschließlich in „Zusatzangeboten“ einsetze und den „Pflichtunterricht“ durch ausgebildete Lehrkräfte abdecke. Tatsächlich übernehmen die Vertretungslehrkräfte alle unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Aufgaben einschließlich der Aufgaben von Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern.

Dieser Einsatz ist für das HKM ein Sparmodell zu Lasten der Unterrichtsqualität und zu Lasten der Beschäftigten und leistet dem Trend zu Privatschulen Vorschub. Die im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ befristet beschäftigten Lehrkräfte werden zum Teil miserabel bezahlt, erteilen vom ersten Tag an Unterricht ohne die notwendige Unterstützung durch den Arbeitgeber, sind permanent mit der möglichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses konfrontiert, wissen am Ende des Schuljahres nicht, wie es weitergeht, und sind ohne jede Berufs- und Lebensperspektive. Als Lehrkräfte ohne Lehramt müssen sie nach § 1 Abs.5 der Pflichtstundenverordnung sogar unentgeltlich eine zusätzliche Unterrichtsstunde halten.

Vor diesem Hintergrund stellt die GEW für die allgemeinbildenden Schulen folgende Forderungen:

  1. Die GEW fordert das Hessische Kultusministerium auf, in einer ehrlichen, ungeschminkten Bilanz darzustellen, wie hoch die Zahl bzw. der Anteil der in Hessen beschäftigten Lehrkräfte in den verschiedenen Schulformen und Regionen ist, die Unterricht erteilen, ohne dass sie ein Lehramt oder das der Schulform entsprechende Lehramt erworben haben. Differenzierte Angaben über das Ausbildungsniveau der Lehrkräfte ohne Lehrerausbildung gehören ebenfalls zu einer ehrlichen Bilanz.
  2. Die GEW fordert die zur Reduzierung des Lehrkräftemangels bereits ergriffenen Maßnahmen zu verstärken. Dazu zählen insbesondere
    - die ausreichende Ausweitung der Zahl der Studienplätze in den Lehramtsstudiengängen an hessischen Universitäten und somit die Abschaffung des Numerus Clausus und 
    -  die entsprechende Erhöhung der Zahl der Stellen im Vorbereitungsdienst.
  3. Hessen muss ein attraktiver Arbeitgeber für Lehrerinnen und Lehrer sein, um Abwanderung zu verhindern. Dazu gehört die – auch aus Gerechtigkeitsgründen erforderliche – Bezahlung der Grundschullehrkräfte nach A 13 bzw. E 13.
  4. Die GEW bekräftigt ihre Forderung, dass alle Einstellungen an hessischen Schulen nach dem Einstellungserlass besetzt werden. Der Vertretungsbedarf ist über eine Ausweitung der Mobilen Vertretungsreserve abzudecken.
  5. Dass ausgerechnet Lehrkräfte ohne Lehramtsbefähigung eine Pflichtstunde zusätzlich zu  unterrichten haben, ist eine in keiner Weise nachvollziehbare Regelung und muss dringend aufgehoben werden. Eine ähnliche Regelung gibt es in keinem anderen Bundesland.
  6. Für eine Übergangszeit wird es erforderlich sein, Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für den Lehrerberuf zu motivieren und berufsbegleitend umfassend zu qualifizieren. Anders als in anderen Bundesländern gibt es in Hessen kein systematisches Programm für die Gewinnung und Qualifizierung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern. Die Anwendung beschränkt sich auf wenige Einzelfälle an allgemeinbildenden Schulen und auf den Bereich der Beruflichen Schulen. Eine 2009 begonnene Quereinsteigerqualifizierung wurde 2012 wieder gestoppt. Die bestehenden Rechtsvorschriften im Hessischen Lehrerbildungsgesetz (§ 3 Abs.4 HLbG, §§ 53-65 HLbG-DV) werden derzeit in der Praxis nicht angewendet.

    Ein Konzept für eine umfassende berufsbegleitende Qualifizierung  muss folgende Kriterien berücksichtigen:
    - Sicherung der Unterrichtsqualität
    - Einstiegsqualifizierung vor Beginn des Unterrichtseinsatzes
    - ausreichende Entlastung der Kolleginnen und Kollegen bei der Unterrichtsverpflichtung zur Erfüllung der Qualifizierungsauflagen
    - ausreichende Entlastung der Kolleginnen und Kollegen, die sich in den Praxisphasen als Mentorinnen und Mentoren engagieren
    - Sicherstellung einer attraktiven Bezahlung in allen Phasen der Qualifizierung
    - Ermöglichung eines Abschlusses, der mit dem Erwerb eines Lehramts oder einer Gleichstellung verbunden ist.
    Die in den anderen Bundesländern entwickelten Qualifizierungsprogramme enthalten einige der beschriebenen Bausteine. Die GEW hält das in einem Fachgespräch der GEW Hessen von Professor Klaus Tillmann vorgestellte Qualifizierungsmodell für eine gut geeignete Möglichkeit, den Quereinstieg zu gestalten. Die GEW lehnt die Einstellung ohne Qualifizierung für ein zweites Fach von Ein-Fach-Lehrkräften, wie sie offensichtlich vom HKM erwogen wird (FR vom 21.1.2020), ab. Unter anderem würde dies die Möglichkeit der ausgebildeten Lehrkräfte weiter einschränken, möglichst auch in zwei Fächern eingesetzt zu werden.
  7. Die im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ eingestellten Kolleginnen und Kollegen firmieren in ihrem Arbeitsvertrag als Vertretungskräfte. Dies hat mit der Realität nichts mehr zu tun, denn sie decken in großem Umfang den Pflichtunterricht ab und verschleiern den Lehrkräftemangel. Diese Praxis muss beendet werden. Das gilt auch für die Beschäftigung von Lehramtsstudierenden. Für die bisher im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ unbefristet beschäftigten Bestandslehrkräfte fordert die GEW ein umfassendes Qualifizierungsprogramm, das diesen, schon lange eingesetzten Kolleginnen und Kollegen eine dauerhafte Berufsperspektive und eine der Tätigkeit angemessene Bezahlung ermöglicht.  
    Die in Punkt 6 genannten Kriterien sind bei einem Seiteneinstiegsprogramm für Bestandsbeschäftigte, die bisher befristet beschäftigt sind, entsprechend ihrer besonderen Situation anzupassen. Für diese Gruppe ist unter anderem eine Stichtagsregelung notwendig und die (nachholende) Einstiegsqualifizierung sollte ggf. inhaltlich abweichend und berufsbegleitend konzipiert werden.
  8. Bei allen Qualifizierungsmaßnahmen ist die zusätzliche Belastung für die ausgebildeten Lehrkräfte und die „Stammkollegien“ zu berücksichtigen und durch die Bereitstellung von zusätzlichen Anrechnungsstunden analog der Übernahme einer Mentorinnen- oder Mentorentätigkeit für die Beratung, Unterstützung und Begleitung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern jedweder Provenienz auszugleichen.

(1) Klaus Klemm/Dirk Zorn (2019): Steigende Schülerzahlen im Primarbereich: Lehrkräftemangel deutlich stärker als von der KMK erwartet, Gütersloh.

(2) Nach der Statistik der KMK wurden in Hessen im Jahr 2017 beispielsweise in Berlin 1.266 Seiteneinsteiger eingestellt, in Sachsen 1.006 und in Hessen Null (!) (Quelle: Einstellung von Lehrkräften 2017, Sekretariat der KMK, 28.9.2018, Tabelle 1.7 Seite 9).

(3) Die Begriffe „Quereinsteiger“ und „Seiteneinsteiger“ werden im Folgenden weitgehend synonym gebraucht. Im engeren Sinn sind Quereinsteiger/innen Kolleginnen und Kollegen, die mit einem Hochschulabschluss (Diplom, Master) und nicht mit einem Ersten Staatsexamen direkt in ein Referendariat einsteigen, so wie dies insbesondere im Bereich der Beruflichen Schulen oft der Fall ist. Seiteneinsteiger/innen sind dagegen Personen, die mit einem Hochschulabschluss mit voller Stundenzahl im Unterricht eingesetzt und berufsbegleitend qualifiziert werden (oder auch nicht). Diese Unterscheidung wird in Hessen nicht gemacht. So wurde auch das 2012 gestoppte „besondere Verfahren zum Erwerb einer einem Lehramt gleichgestellten Qualifikation“ immer als „Quereinsteiger-Verordnung“ etikettiert. Die oben beschriebene Unterscheidung erfasst unter anderem auch nicht die Fälle von Kolleginnen und Kollegen, die nach dem ersten Staatsexamen ein Referendariat in einem anderen Lehramt beginnen oder nach dem zweiten Staatsexamen eine Weiterqualifizierung für ein anderes Lehramt ohne ein weiteres Referendariat durchlaufen.

 


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