Bildungspolitik

Unterricht über die NS-Zeit

Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft

Die HLZ dokumentiert im Folgenden auszugweise das Kapitel zur Bedeutung der Schule für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (S.306-313), in dem Katharina Rhein die entsprechenden Fragen einer Umfrage unter Studierenden der Erziehungswissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität auswertet. An der Befragung, die im Wintersemester 2010/11 durchgeführt wurde, nahmen 283 Studierende teil, die zumeist im ersten oder zweiten Semester des Bachelor-Studiengangs standen und somit noch sehr nah an der Schulzeit waren. Insgesamt gaben etwa 6,5 % Prozent der Befragten an, vom Unterricht „genervt“ gewesen zu sein. Knapp 50 % beschreiben die Thematisierung der NS-Zeit in Schule und Unterricht als „positiv“, andere beschreiben eher neutral, was im Unterricht oder in der Schule thematisiert wurde. Etwa 7 % betonen explizit, dass sie besonders „gute und engagierte Lehrende“ hatten. 15 % erwähnen, dass es an ihrer Schule „zusätzlich zum Unterricht“ auch andere Angebote gab. In den meisten Fällen waren das Fahrten in ehemalige Konzentrationslager, teilweise aber auch Zeitzeug*innengespräche, Ausstellungen in der Schule oder andere Veranstaltungen und Projekte. Das wurde in der Regel auch positiv wahrgenommen, und gerade die Besuche ehemaliger KZs werden als eindrückliche und wichtige Erfahrungen beschrieben.

Da sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der Fachliteratur immer wieder die Rede davon ist, dass Schüler*innen im Allgemeinen das Thema auf die Nerven gehe oder sie nicht interessiere, […] soll hier ein genauerer Blick auf die Antworten in der Kategorie „Genervtheit“ geworfen werden. Es gibt zwar einzelne Antworten, die einfach nur kritisieren, dass das Thema zu oft behandelt worden sei […]. In den meisten Fällen wird diese Genervtheit allerdings recht klar begründet, was deutlich macht, dass es sich nicht um ein generelles Desinteresse, sondern vielmehr um eine Unzufriedenheit mit der Art der Vermittlung handelt, wie die folgenden Beispiele zeigen. Immer wieder wird eine häufige, aber gleichzeitig oberflächliche Behandlung des Themas kritisiert:

„Die Schule war eher negativ für das Interesse an der NS-Zeit. Es wurde in allen Fächern ständig nur das Gleiche thematisiert und alles war sehr oberflächlich. Es wäre besser, wenn man dieses Thema einmal richtig zur Sprache bringt als ständig ein bisschen. Dadurch stumpft man leicht ab und kann das Thema irgendwann nicht mehr hören.“ [Bogen 137]

„In meiner Schulzeit habe ich das Thema der NS-Zeit bestimmt dreimal durchkauen müssen, wobei die Vermittlung immer so war, das das Thema mich zwar generell interessierte, aber wir immer dieselben Daten und Zahlen pauken mussten und kaum tatsächliche Einblicke in die Zeit bekamen. Zudem stellten sich bei vielen Schülern beim wiederholten Durchkauen derselben Dinge (leider) ein Unlustgefühl ein und die Aussage ‚Wir können doch nix dafür‘, als sei die Behandlung des Stoffes eine Strafe. Dies hat mich in meiner Ansicht geprägt, dass es wichtig ist, wie diese Dinge gelehrt und behandelt werden und dass eben kein generelles Schuldgefühl am Ende der Aufklärung stehen sollte.“ [Bogen 124]

Auch in den nächsten Antworten wird nicht kritisiert, dass das Thema behandelt wird, sondern dass offenbar vieles wiederholt wurde und eine tiefergehende Behandlung des Themas fehlte:

„Ich habe viel über die NS-Zeit in der Schule gelernt. Jedes Jahr aufs Neue und dies hat mich sehr genervt. Ich war genervt von dem ständigen gleichen Lernstoff.“ [Bogen 89]

„Ich finde es sehr schade, wie schlecht das Thema NS in der Schulzeit behandelt wird. Es wird immer wieder angeschnitten und immer wieder wird gesagt, wie schlimm die Zeit war, wie schlimm die Nazis und Hitler waren. Aber es wird viel zu wenig sich intensiv mit den Prozessen und den Auswirkungen und Analysen im Bezug auf menschliche Verhältnisse auseinandergesetzt. Das führt dazu, dass ich irgendwann das Thema Holocaust und Nazis etc. nicht mehr hören konnte, weil es ein ewiges Geleier war um den gleichen Mist und es nie wirklich inhaltlich wurde. Das finde ich sehr schade und wirklich schlecht umgesetzt.“ [Bogen 246]

Und im letzten Beispiel wird neben einer schlechten Lehrplanung, zu häufigen Wiederholungen und uninteressanten Unterrichtsthemen auch kritisiert, dass die Fragen nach Ursachen und der aktuellen Bedeutung nicht behandelt wurden:

„Die Schulzeit hat leider die Beschäftigung damit übertrieben. Wir haben (durch komische Lehrer- und Kurswechsel) fast über nichts anderes in der Geschichte gesprochen und ich habe, glaube ich, insgesamt 5 Arbeitslager/KZs besucht. Somit wurde das Thema zu dieser Zeit leider nervig, zumal es in der Schule meiner Meinung nach auch noch schlecht gelehrt wird. Sich über Daten und Kriegszüge zu unterhalten, finde ich persönlich weniger spannend als die konkrete Frage: Wie konnte das passieren und sind wir davor geschützt?!“ [Bogen 226]

Entsprechende Kritiken finden sich auch in den Antworten, in denen eine „Kritik am Unterricht“ formuliert wurde, die aber nicht mit einer Genervtheit einherging. In der Regel wurde hier ebenfalls die Oberflächlichkeit oder die Tatsache kritisiert, dass das Thema entweder allgemein zu wenig behandelt wurde oder bestimmte Aspekte und Fragestellungen außen vor blieben, wie z. B. in dieser Antwort:

„In der Schule wurde hauptsächlich nur aus politischer Sicht über die NS-Zeit geredet. Man setzte sich nur mit Hitler und der Kriegsführung auseinander. Wir haben nur wenig über Erziehung gesprochen und auch zu wenig über die Konzentrationslager und Opfer dieser Zeit.“ [Bogen 58]

Dabei gibt es mehrfach auch Unterscheidungen zwischen verschiedenen Phasen der Schulzeit, wie im folgenden Beispiel, wo der Unterricht zunächst kritisiert wird, dann aber auf ein positives Beispiel an einer Schule, die vorher einmal besucht worden war, eingegangen wird:

„Ich empfand die Beschäftigung mit der NS-Zeit im Unterricht als sehr oberflächlich und lediglich auf historischen Fakten beruhend. Eine wirkliche Auseinandersetzung fand da nicht statt. An dem Gymnasium, das ich zuerst besucht habe, gab es allerdings eine Art Projektwoche, bei der eine Schülergruppe für 2 Wochen nach Ausschwitz gereist ist, sich mit Zeitzeugen getroffen und sich sehr tiefgehend mit dem Thema beschäftigt hat. Im Anschluss präsentierten sie ihre Erfahrungen in einer Ausstellung, einem Film und einem Buch. Das hat mir sehr imponiert.“ [Bogen 101]

Das, was hier an Kritik geäußert wird, wird umgekehrt auch deutlich, wenn Befragte ihre „guten Lehrer*innen“ explizit loben und dabei auch erwähnen, wodurch sie sich positiv von anderen abhoben. Gründe sind das besondere Engagement und das eigene Interesse der Lehrer*innen sowie die Ermutigung der Schüler*innen dazu, eigenständig Positionen zu entwickeln und sich selbst mit dem Thema zu befassen:

„Zusätzlich hatten wir einige interessante Vorträge von Zeitzeugen und Buchautoren (‚Hitlerjunge Salomon‘), außerdem den Besuch des KZ Dachau, sehr umfangreiche Beleuchtung des gesamten Themas, hauptsächlich dank meiner sehr engagierten Geschichts- und Deutschlehrerin.“ [Bogen 31]

„Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und hatte das Glück, auch interessierte Lehrer gehabt zu haben.“ [Bogen 41]

„Habe vor allem in der Oberstufe von meinem Lehrer, der sehr sensibel mit diesem Thema umging, vieles gelernt. Er stellte die Sachlage dar und urteilte nie. Wir sollten selbst urteilen. Die vorherigen Lehrer taten das nie.“ [Bogen 6]

„Ich hatte während der Schulzeit eine Lehrerin, die mit uns viel über das Thema gesprochen hat und uns auch ermutigt hat, uns mit dem Thema NS-Zeit auseinander zu setzen.“ [Bogen 181]

Zusammenfassung
Bei dieser Frage ist auffällig, dass es kaum Unterschiede zwischen den Befragten mit und ohne Migrationserfahrung (in der Familie) gibt. […] Wenn Kritik am Unterricht oder auch eine Genervtheit vom Thema geäußert wird, werden hierfür fast immer Gründe angegeben, die auf eine Unzufriedenheit mit der Art und Weise der Behandlung des Themas schließen lassen und keineswegs auf eine generell ablehnende Haltung. Tendenziell ist das Gegenteil der Fall, denn kritisiert wird eine zu oberflächliche oder kurze Behandlung des Themas. Das spiegelt sich umgekehrt in den Antworten wider, in denen Befragte ihre besonders engagierten Lehrer*innen ausdrücklich loben. Insofern stützen diese Ergebnisse die These, dass eine ablehnende Haltung von Jugendlichen gegenüber dem Thema mehr mit den Lehrenden und deren pädagogischer Praxis als mit dem Thema an sich zu tun haben könnte.


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         Referent Bildungspolitik

           Dr. Roman George
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