Bildungspolitik

Wo Hattie irrt

Klassengrößen spielen doch eine Rolle

HLZ 12/2019: Erwachsenenbildung

Die Auseinandersetzung über die bildungspolitisch relevanten Aussagen des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie und seine wegweisende Metastudie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ wird oft auf die Frage reduziert, welche Bedeutung Hattie der Klassengröße für den Erfolg des Lernens zumisst. Gern wird er für die Behauptung vereinnahmt, es gebe keine Belege für positive Effekte kleinerer Klassen. Volker Hagemeister fasste seinen ausführlichen Artikel, der in der Zeitschrift Bildungsforschung 1/2018 veröffentlicht wurde, für die HLZ zusammen.

Hattie reduziert die Ergebnisse ganz unterschiedlicher Klassenfrequenzstudien auf eine einzige Zahl. Dadurch wird nicht vermittelt, dass bei einigen der Studien, die Hattie vorgibt, ausgewertet zu haben, sehr wichtige Ergebnisse erzielt wurden:

  • Schülerinnen und Schüler aus kleinen Klassen entscheiden sich häufiger, länger zur Schule zu gehen.
  • Schülerinnen und Schüler aus kleinen Klassen müssen seltener einen Kurs wiederholen, sie schwänzen seltener die Schule und es werden seltener schulische Disziplinarstrafen gegen sie verhängt.
  • Beim Tennessee STAR-Project wurden in den repräsentativ zusammengestellten kleinen Klassen Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern signifikant besser als in großen Klassen gefördert, ohne dass dabei die Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern vernachlässigt wurden. Der Aufenthalt in den nach Zufallsverfahren zusammengestellten kleinen Klassen führte dazu, dass die Kluft zwischen Studienbewerbern europäischer und afrikanischer Herkunft bei den Universitätsaufnahmetests um 60 % sank, was Hattie keiner Erwähnung wert ist.

Hattie behauptet in seiner erwähnten Veröffentlichung, es gebe „kaum Studien, die untersuchen (…), ob sich die Erfahrungen im Klassenzimmer bei kleineren Klassen von denen in größeren Klassen unterscheiden“ (Visible Learning, S.103).
Hier wird deutlich, wie oberflächlich sich Hattie mit den wissenschaftlichen Berichten befasst hat, die er zum Thema Klassenfrequenz ausgewertet hat: Allein in sechs Studien, die Hattie in seinem Abschnitt „Klassengröße“ anführt, sind systematische Unterrichtsbeobachtungen ein zentrales Thema. Aus den Protokollen, die bei Unterrichtsbeobachtungen angefertigt wurden, kann man ablesen, dass die Kinder in kleinen Klassen

  • im Unterricht aufmerksamer sind,
  • Arbeitsaufträge verlässlicher zu Ende führen,
  • häufiger mit anderen Kindern zusammen arbeiten,
  • mehr tun als gerade gefordert wird,
  • häufiger von sich aus Fragen stellen, um weitere Informationen zu erhalten und
  • während des Unterrichts seltener Unruhe verbreiten und seltener passiv oder geistesabwesend sind.

Diese Unterrichtsbeobachtungen haben allerdings auch ergeben, dass sowohl in großen als auch in kleinen Klassen Frontalunterricht die dominierende Unterrichtsform ist. Trotzdem führt der Unterricht in kleinen Klassen langfristig zu signifikant besseren Ergebnissen, weil die Schülerinnen und Schüler in kleinen Klassen besser mitarbeiten.

Beim Tennessee STAR-Project hat sich gezeigt, dass der Aufenthalt in Klassen mit 15 Kindern sich nur dann langfristig fördernd auswirkt, wenn diese Schulklassen mindestens drei Jahre hindurch Bestand hatten und wenn die Klassen repräsentativ zusammengesetzt waren. Dies erklärt, warum in Klassenfrequenz-Studien, die im deutschsprachigen Raum durchgeführt wurden, für kleine Klassen nur unbedeutende oder sogar negative Effekte ermittelt wurden, weil die Schülergruppen nicht repräsentativ zusammengesetzt waren und nicht mindestens drei Jahre hindurch bestanden haben.
Volker Hagemeister

Den vollständigen Artikel findet man im Internet auf der Internetseite www.pisa-kritik.de.

Volker Hagemeister war bis 2005 wissenschaftlicher Direktor am Berliner Landesinstitut für Schule und Medien und ist seit 2006 Therapeut für Schwierigkeiten im Rechnen. Auf der Homepage www.pisa-kritik.de sind interessante Artikel des Autors unter anderem zu den Themen Einschulungsalter, zentrale Vergleichsarbeiten, Ganztagsbetreuung und Schwierigkeiten beim Rechnen verfügbar.


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