Engagement vor Ort trotz Arbeitsverweigerung des Ministers

Hessens Schulen im Lockdown: „Kuddelumuddel“ statt Konzepte

Zu Beginn dieser Woche wurden deutschlandweit die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie weiter verschärft. Bislang ist es trotz aller eingeleiteten Maßnahmen nicht gelungen, das Infektionsgeschehen ausreichend einzudämmen. Kontakte im Privatbereich müssen nun noch weiter reduziert werden. An den Schulen erlebten wir aber faktisch das Gegenteil, nämlich eine Lockerung. Diese ist zunächst schlicht und einfach dem Ende der Weihnachtsferien geschuldet. Sie ist aber auch eine Folge der laschen Umsetzung der Beschlüsse der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten und der Bundeskanzlerin durch das hessische Corona-Kabinett: Anstelle, wie es der Intention der Bund-Länder-Beschlüsse entspräche, Kontakte auch an den Schulen bis Ende Januar so weit wie möglich zu minimieren, hat Hessen für die Klassen eins bis sechs lediglich die Präsenzpflicht ausgesetzt. Auch alle Abschlussklassen sind zurück in den Präsenzunterricht geholt worden, in der Regel in geteilten Gruppen.

Erst am vorletzten Ferientag, Donnerstag den 7. Januar, erhielten die Schulen die entsprechenden Informationen vom Kultusministerium, auf deren Grundlage sie die kommenden Schulwochen planen konnten. Es ist einzig und allein dem Engagement des gesamten pädagogischen Personals zu verdanken, dass die Schulen trotz dieser miserablen Informationspolitik in dieser Woche nicht im vollkommenen Chaos versunken sind und das Lernen unter schwierigsten Bedingungen ermöglicht wurde. Wir möchten hier auf der Grundlage der Rückmeldungen, die wir aus vielen Schulen erhalten haben, die gemachten Erfahrungen bilanzieren:

  • Nach Angaben des Kultusministeriums hat ein knappes Fünftel (18 Prozent) der Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 6, bei denen die Präsenzpflicht ausgesetzt ist, den Unterricht an der Schule besucht. Die Beteiligung war aber sehr ungleich verteilt: Während in vielen Schulamtsbezirken nur rund 15 Prozent vor Ort waren, sind es im Schulamtsbezirk Marburg über 30 Prozent gewesen. Die Situation unterscheidet sich aber auch von Schule zu Schule und von Klasse zu Klasse. Uns liegen Berichte vor, dass in einzelnen Klassen drei Viertel der Kinder präsent waren.
  • Es scheinen nicht in erster Linie die Kinder in den Schulen in schwieriger sozialer Lage in den Präsenzunterricht zu kommen, sondern eher die, bei denen beide Eltern berufstätig sind und sich daher die Betreuungsproblematik besonders drängend stellt. Gerade die Kinder, für die der Präsenzunterricht für den Lernfortschritt am wichtigsten wäre, profitieren somit kaum von dieser Regelung.
  • Auch aus diesem Grund müssen alle Unternehmen endlich in die Pflicht genommen werden, allen dafür in Frage kommenden Beschäftigten Homeoffice zu ermöglichen. Auch in Bereichen, in denen dies nicht möglich ist, muss der ausgesprochen fordernden Situation von Eltern – beispielsweise im Rahmen der Schichtplanung – Rechnung getragen werden. Die endlich beschlossene Erweiterung der Regelungen zur Ausweitung der Kinder-Kranktage kann einen Beitrag dazu leisten, reicht alleine aber nicht aus.
  • Es ist zu erwarten, dass sich, je länger die Einschränkungen andauern, der Anteil der Kinder, der den Präsenzunterricht besucht, weiter erhöhen wird. Gerade in den Klassen, wo schon eine größere Zahl vor Ort ist, kann bei immer mehr Eltern auch die Sorge entstehen, dass die Kinder im Distanzlernen in einen Lernrückstand gegenüber den Kindern im Präsenzunterricht geraten.
  • An den weiterführenden Schulen sind alle Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse im Distanzlernen, ausgenommen sind allerdings die Abschlussklassen. Das bedeutet für eine integrierte Gesamtschule, dass ein größerer Teil der Kinder der 5. und der 6. Jahrgangsstufe vor Ort ist, da für diese ebenso wie für die Grundschulen lediglich die Präsenzpflicht ausgesetzt ist. Darüber hinaus sind auch die 9. und 10. Klassen als Abschlussklassen im Präsenzunterricht. In der Regel werden sie dann geteilt, um kleinere Gruppen zu ermöglichen. Somit können sich trotz hartem Lockdown auch an den weiterführenden Schulen viele Schülerinnen und Schüler gleichzeitig einfinden. Andererseits haben wir viele, insbesondere in den Klassen 7 und 8, die über Wochen überhaupt keinen direkten Kontakt zu ihrer Lehrkraft haben.
  • Besondere Probleme gibt es auch an den berufsbildenden Schulen. Da die Bildungsgänge an diesen eher kurz sind, finden sich hier sehr viele Abschlussklassen im Präsenzunterricht. Durch die Vorgaben des Ministeriums müssen so an den meisten berufsbildenden Schulen mehr als die Hälfte der Klassen präsent sein und gleichzeitig sollen die Gruppen geteilt werden, eine schier unlösbare Aufgabe für Schulleitungen und Kollegien! Gleichzeitig bleiben die Schülerinnen und Schüler in den Bildungsgängen zur Berufsvorbereitung vom Präsenzunterricht ausgeschlossen, obwohl dieser gerade für diese Gruppe am wichtigsten wäre.
  • Besondere Probleme bereiten auch die Betriebspraktika. Bis Ende Januar wurden die Praktika vorerst ausgesetzt, aber auch für die kommenden Monate gilt, dass diese faktisch nicht durchführbar sind, weil die Unternehmen kaum Praktikumsplätze anbieten. Statt darauf unbürokratisch zu reagieren, werden in den allgemeinbildenden Schulen von den Schülerinnen und Schülern zunächst drei schriftliche Absagen verlangt, bevor sie an einem schulischen Alternativangebot teilnehmen dürfen. Der Ausfall der Praktika in den Schulformen der berufsbildenden Schulen kann zu Nichtversetzung bzw. zur Nichtanerkennung des Abschlusses führen. Hier müssen schnell pragmatische Lösungen gefunden werden.
  • Der Übergang in Ausbildung wird sich absehbar in diesem Jahr für viele Schülerinnen und Schüler noch schwieriger gestalten als in den Vorjahren. Die Forderung des DGB nach einer Ausbildungsplatzumlage gewinnt vor diesem Hintergrund an Dringlichkeit. Darüber hinaus sollte allen Ausbildungsinteressierten, die im Rahmen des dualen Systems keinen Ausbildungsplatz erlangen können, eine vollschulische Ausbildung als Alternativangebot ermöglicht werden.
  • Gerade durch die unterrichtliche Tätigkeit in Kombination von Unterricht in der Schule und zusätzliche digitale Angebote ergibt sich Mehrarbeit. Der Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer hat auf Initiative der GEW-Fraktion gegenüber dem Ministerium einen Erlass erstritten, der „Hinweise zur Vergütung von Mehrarbeit, die durch zusätzliche zum Präsenzunterricht erteilten Distanzunterricht entsteht“ enthält. In diesem ist nun geregelt, wie die aktuellen, zusätzlichen Belastungen der Kolleginnen und Kollegen als Mehrarbeit anerkannt und vergütet werden können. Dies ist sicher nicht ausreichend, aber zumindest eine Möglichkeit, um einen Teil der Zusatzbelastungen zu honorieren.
  • Die im Sondervermögen bereitgestellten 150 Millionen Euro für zusätzliche Kräfte sind bislang kaum an den Schulen angekommen. Dies ist den strikten Vorgaben geschuldet, unter denen diese Mittel von den Schulen abgerufen werden können. Auch hier benötigen wir mehr Flexibilität, um insbesondere Schulen in einer schwierigen sozialen Lage schnell durch zusätzliche TV-H-Kräfte zu unterstützen.
  • Die digitale Bildungsinfrastruktur ist bei weitem noch nicht ausreichend. Das betrifft sowohl die Ausstattung mit Endgeräten seitens der Schülerinnen und Schüler, wie auch seitens der Lehrkräfte. Da bislang kaum zusätzliche Stellen für die IT-Administration geschaffen wurden, konnten nicht einmal die Notebooks und Tablets, die bislang ausgeliefert wurden, alle eingerichtet und ausgegeben werden. So stehen sie nun nutzlos herum, anstatt bei den Schülerinnen und Schülern zu sein, die sie benötigen.

Inzwischen sollte auch der Landesregierung und dem Kultusminister klar geworden sein, dass dieses Schuljahr ganz erheblich durch die Pandemie beeinflusst ist und daher deutliche Anpassungen erforderlich sind. Dafür benötigen wir endlich anstelle von kurzfristigen Ad-Hoc-Entscheidungen einen mit konkreten Inzidenzwerten unterlegten Stufenplan, so dass für alle an Schule beteiligten klar ist, wenn mit welchen Rahmenbedingungen zu rechnen ist. Bei einer erhöhten Inzidenz über 50 muss, der Empfehlung des RKI folgend, verbindlich Wechselunterricht eingeplant werden. Dies ist gegenwärtige das einzige praktikable Modell, um die Anforderungen des Gesundheitsschutzes mit dem Recht auf Bildung zu verbinden, bevor ab dem Sommer auf eine deutliche Verbesserung der Lage gehofft werden darf. Außerdem muss es viel mehr Flexibilität bei den Abiturprüfungen geben. Die zentralen Haupt- und Realschulabschlussprüfungen sollten komplett entfallen. Die Note kann problemlos alleine auf der Grundlage der bereits abgelegten Präsentations- und Projektprüfungen und den erzielten Zeugnisnoten vergeben werden.

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