Kein Spaziergang für die Demokratie

Trotz Corona: Das Demonstrationsrecht verteidigen

HLZ 6/2020

 

Foto: Trotz Einhaltung aller Abstandsregeln und Mundschutz löste die Polizei eine Demonstration
der „Seebrücke“, die sich für die Aufnahme von Menschen aus den griechischen Flüchtlingslagern
einsetzt, am Frankfurter Mainufer am 5. April auf. (Foto: Protestfotografie Frankfurt)

Solange der DGB und die in ihm vereinigten Gewerkschaften an der Einhaltung des Versammlungsverbotes infolge der Coronakrise festhalten, begeben sich die Vertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik eines wichtigen Mittels, um die Rechte und Interessen ihrer Mitglieder und der Arbeitnehmerschaft insgesamt wirkungsvoll zu vertreten.

Anlässe dafür streitbar einzutreten gäbe es genug und sie sind durch die Folgen der Pandemie nicht geringer geworden, ganz im Gegenteil:

Die CoV-19-Arbeitszeitverordnung hebelt grundlegende Arbeitsschutzbestimmungen, zunächst befristet bis zum 31. Juli 2020, aus: Die täglich zulässige Höchstarbeitszeit wird von zehn auf zwölf Stunden erhöht, die Ruhezeit zwischen zwei Arbeitsphasen von elf auf neun Stunden reduziert und das bestehende Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen für viele Beschäftigte aufgeweicht. (HLZ S. 5)

Der schon vor der Coronakrise vorgelegte Gesetzentwurf zur Eindämmung befristeter Arbeitsverhältnisse wurde auf Eis gelegt, denn es gebe, so SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil wörtlich, „andere Aufgaben, um die wir uns jetzt kümmern müssen“. Damit wurde das Verbot der sachgrundlosen Befristungen, die gerade auch im Schulbereich um sich gegriffen haben, erneut vertagt.

Die gemäß Infektionsschutzkriterien katastrophalen Verhältnisse an vielen Arbeitsplätzen unterlaufen gezielt sowohl die Verhaltensgebote der Exekutive als auch die neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards des Bundesarbeitsministeriums.

Arbeitnehmerrechte in Gefahr

Konkret betroffen waren unter anderem die zur Rettung des deutschen Spargels eingeflogenen 80.000 rumänischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Nicht nur die Kolleginnen und Kollegen des Berliner Beratungszentrums für Migration und Gute Arbeit des DGB gewannen beim Besuch auf Bauernhöfen im Spreewald den Eindruck, „dass die Maßnahmen zwar den Infektionsschutz der deutschen Bevölkerung im Blick haben, Arbeitsrechte und Gesundheitsschutz der Arbeiterinnen und Arbeiter aber deutlich zu kurz kommen“.

Der stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende und frühere Vorsitzende des DGB Hessen-Thüringen Stefan Körzell warnte davor, „die Krisensituation auszunutzen, um Arbeitnehmerrechte wie den Mindestlohn zu schleifen“: „Der Mindestlohn ist die unterste Haltelinie, die auch in der Krise ausnahmslos für alle Beschäftigten gilt, auch für Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in der Landwirtschaft.“

Diese unvollständige Aufzählung von unhaltbaren Zuständen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zeigt den dringenden Handlungsbedarf der Gewerkschaften: Ohne die Möglichkeit zu innerbetrieblichen Versammlungen und ohne die Gelegenheit zu Demonstrationen in der breiteren Öffentlichkeit bleibt gewerkschaftliches Handeln weitgehend wirkungslos.

Anliegen der Zivilgesellschaft

Daneben gibt es auch in der Corona-Krise wichtige demokratische Anliegen der Zivilgesellschaft, die durch das Versammlungsverbot auf Eis gelegt sind:

Im Anschluss an den putschartigen Versuch, in Thüringen einen Ministerpräsidenten von Gnaden der dortigen AfD-Landtagsfraktion zu installieren, kam es zu einer bundesweiten Demonstrationsbewegung von solcher Breite, dass die bürgerlichen Helfer der Rechtsextremen in FDP und Ost-CDU sich zu einem Rückzieher gezwungen sahen.

Wie schmerzhaft notwendig ein massenhaftes Eintreten gegen grassierenden Rassismus, Migrantenfeindschaft und Antisemitismus ist, haben die Ereignisse von Halle und Hanau gezeigt. Die sich daran anschließende Solidaritätsbewegung war gerade dabei, an Kraft und Breitenwirkung zu gewinnen, als die Pandemiekrise einsetzte und alle öffentlichen Kundgebungen unterbunden wurden.
Die Verschärfung des EU-Grenzregimes zur Abwehr von Flüchtlingen aus den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten im Nahen Osten und in Libyen sowie in Griechenland steht in engem Zusammenhang mit der Pandemie. Berichte über die katastrophalen Bedingungen in den Lagern gehen in den Medien unter. Die neue Undurchlässigkeit der Grenzen unterminiert die völkerrechtlichen Regelungen zum Schutz von Flüchtlingen und das Recht auf Asyl in nie gekanntem Ausmaß. Vorgänge wie diese, die allgemein in den bürgerlichen Medien keine oder eine schlechte Presse haben, können nur durch nachhaltige Proteste auf den Straßen der Republik die ihnen gebührende öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.

Ein Versuch von Anhängern der Aktion Seebrücke am 5. April am Mainufer in Frankfurt, gegen diese Zustände zu demonstrieren, wurde trotz Beachtung der Abstandsregeln von der Polizei mit teils massivem Körpereinsatz aufgelöst. Verfassungsrechtler und Oppositionsparteien vertraten dagegen den Standpunkt, dass der Infektionsschutz nicht das Versammlungsrecht aufheben könne.

Verfassungsgericht nur halbherzig

Auch in Gießen wollten die Ordnungsbehörden Demonstrationen unter dem Titel „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ untersagen, allerdings scheiterte die Stadt mit ihrem Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das in einem Eilverfahren entsprechende Urteile der Verwaltungsgerichte aufhob. Eine bedingungslose Bestätigung des Demonstrationsrechts kam dabei allerdings nicht heraus. Das BVerfG wirft der Ordnungsbehörde lediglich vor, verkannt zu haben, „dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde für die Ausübung des durch § 15 Abs.1 Versammlungsgesetz eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt“.

Mit anderen Worten: Da durch die hessische Infektionsschutzverordnung Demonstrationen nicht ausdrücklich verboten seien, hätte die Stadt Gießen bei ihrer Entscheidung auf eine Bestimmung im Versammlungsgesetz zurückgreifen können, die ihr einen Ermessensspielraum zugunsten einer Genehmigung der Demonstration lasse. Damit aber bestreitet das BVG keineswegs die grundsätzliche Entscheidungshoheit der Ordnungsbehörde über Verbot oder Genehmigung von Versammlungen, sondern mahnt lediglich an, für eine Entscheidung „die konkreten Umstände des Einzelfalls“ zu berücksichtigen. Dies lässt der Stadt die Möglichkeit, „nach pflichtgemäßem Ermessen“ darüber zu entscheiden, „ob die Durchführung der angemeldeten Versammlungen (…) von bestimmten Auflagen abhängig gemacht, oder, sofern sich diese als unzureichend darstellen sollten, verboten wird.“
Wer aber die Souveränität über die zu erteilenden Auflagen hat, besitzt auch ein Stück weit die Souveränität über Verbot und Genehmigung einer Demonstration.

Wie weit diese Definitionsmacht die Versammlungsfreiheit einschränken kann, zeigt eine für den 29. April auf dem Frankfurter Römerberg geplante Demonstration von Eltern, die sich dafür aussprachen, die Belange von Kleinkindern in der Coronakrise stärker zu berücksichtigen. Nach Aussagen der Organisatorin Leonie Rhein stand die Demo aufgrund der Auflagen kurz vor dem Scheitern. Leonie Rhein störte sich dabei weniger an den Vorgaben zur maximalen Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder den Abstandsregeln, sondern vor allem daran, dass ihr „in den Gesprächen mit dem Frankfurter Ordnungsamt nahegelegt worden“ sei, „die Veranstaltung im Vorfeld nicht zu bewerben“:
„Weder solle sie in den sozialen Medien noch durch die Presse angekündigt werden. Andernfalls könne die Veranstaltung noch verboten werden.“ (hessenschau.de vom 29.4.2020)

Bastionen demokratischer Teilhabe

Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit oder das Recht auf freie Meinungsäußerung haben sich in der Verfolgung von konkreten Anliegen, Forderungen und Zielen zu bewähren, die am Maßstab von materiellen und sozialen Interessen und der Menschenrechte zu Recht als demokratisch legitimiert angesehen werden können. Demonstrationen, wie sie beispielsweise rund um die Webplattform „Nichtohneuns“ veranstaltet werden, die auch hinter der Demonstration am 18. April in Darmstadt stand, mögen naiv Gutwillige anziehen, die sich Sorgen um den Zustand der bundesdeutschen Demokratie machen. Sie müssen sich aber wegen der mangelnden Trennschärfe ihrer Parolen und Forderungen den Vorwurf gefallen lassen, extrem rechte Trittbrettfahrer mit ihrer Hetze, wie sie auch in Darmstadt verbreitet wurde, einzuladen. Eine wirkliche Verteidigung des Versammlungsrechts kann nur gelingen, wenn Veranstalter auftreten, die sich klar gegen Rechtsaußen abgrenzen und eben keine schwammigen Ziele verfolgen, hinter denen sich eine nebulöse Menge auf den Straßen der Republik tummeln kann, deren Teilnehmer auch noch Pegida und ähnliche Hetzdemos als höchst legitime Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit ansehen.

Nicht anschlussfähig für die Gewerkschaften sind auch Manifestationen wie die „Spaziergänge für die Demokratie“ rings um den Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, die durch Verbreitung über Videoclips im Netz einige Furore machen und die von der besagten Webplattform organisiert und beworben werden. Wo Figuren wie das AfD-Mitglied Karolin Matthie auftreten, die mit ihrer Kampagne für erleichterten Zugang zu Waffenbesitz einer Brutalisierung der sozialen Verhältnisse das Wort redet und den Waffenproduzenten die Lobbyistin macht, sollten Linke das Weite suchen.

Die Regierenden und die deutsche Wirtschaft werden alles versuchen, die sich auftürmenden Lasten der Pandemiekrise auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sozial benachteiligte Gruppen der Bevölkerung abzuwälzen. Auf die Gewerkschaften dürfte in dieser Situation eine Herausforderung von historischen Ausmaßen zukommen, um die mühsam erkämpften Rechte zu verteidigen.

Uneingeschränkte Meinungs- und Publikationsfreiheit, aber auch vor allem das Recht auf Versammlungsfreiheit bilden hierbei unverzichtbare Bastionen demokratischer Teilhabe, für die unter Berücksichtigung des notwendigen Infektionsschutzes in naher Zukunft mit deutlichem Nachdruck auch von Gewerkschaftsseite eingetreten werden muss. Der in der Nachkriegsgeschichte einmalige Rückzug des DGB zum 1. Mai ins Netz mag aus Gründen des Gesundheitsschutzes legitim gewesen sein. Doch schon die Kämpfe der allernächsten Zukunft werden nicht (allein) virtuell geführt werden können.

Ernst Olbrich