Zeit für Aufarbeitung

Kinder tragen die Erfahrung der Corona-Krise in die Schule

HLZ 6/2020

Ich bin keine Psychotherapeutin und habe keine Ausbildung in psychologischer Krisenintervention. Ich bin sozialpädagogische Fachkraft und arbeite in einem multiprofessionellen Team in einer Förderschule. Unsere Arbeitsweise beruht auf Beobachtung, Analysieren von Verhaltensweisen und Zuhören. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen und alles in einen logischen Zusammenhang zu bringen, um unsere Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, wo sie gerade emotional und entwicklungsbezogen stehen.

Stillstand ohne Stillstand

Aus diesem Blickwinkel schaute ich schon in der ersten Woche nach Schulschließung auf den Wiedereinstieg. Der Beitrag „So bewältigen wir eine Krise“ der Wissenschaftsjournalistin Lara Schwenner zum Themenbereich Trauma und Verlust bestätigte mich in meinen Überlegungen, dass der Wiedereinstieg in den Schulalltag nach dieser Zeit kein gewöhnlicher Einstieg in Schule sein kann, wie er uns allen nach unterrichtsfreier Zeit bekannt ist. Es waren eben keine Ferien. Es war ein Stillstand – ohne wirklichen Stillstand! Das Leben ging weiter, nur eben anders als gewohnt. Die Europäische Union rief nach § 4 der Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit eine Krise aus, da ein Schadensereignis eingetreten ist, das Leben und Gesundheit zahlreicher Menschen erheblich gefährdet oder einschränkt.

In ihrem Artikel „Trauma und Verlust“ schreibt Laura Schwenner unter anderem Folgendes: „In einer Krise durchlaufen wir verschiedene Phasen. Wie lange die Bewältigung dauert, ist jedoch individuell verschieden. Krisen werfen uns aus dem Gleichgewicht. Darum müssen wir drüber sprechen.“

Des Weiteren schreibt sie, dass Forscherinnen und Forscher darüber übereinstimmen, dass vier verschiedene Phasen der Krisenbewältigung zu beobachten sind:

  • die Phase des „Schocks“ (Lähmung, Nicht-Wahrhaben-Wollen)
  • die Phase der „Reaktion“ (chaotische Emotionen, Verdrängung, Angst)
  • die Phase der „Bearbeitung“ (Akzeptanz, Lösungen suchen) und
  • die Phase der „Neuorientierung“ (zu sich selbst, zur Umwelt.

Diese Phasen laufen individuell, selten chronologisch, sind nicht voneinander abzugrenzen und können sich wiederholen.

Phasen der Krisenbewältigung

Eine langanhaltende Krise ohne entsprechende Bewältigungsstrategien des Individuums ist häufig mit psychosomatischen Beschwerden oder psychischen Erkrankungen verbunden. Suizidalität, Schlafstörung, Essstörung, Stress und Suchtverhalten können die Folgen sein.

Wir alle machen in diesen Monaten Erfahrungen, die unsere bisherigen Erfahrungen, Normen, Werte, Lösungsstrategien und Handlungsmuster auf den Kopf stellen. Wir erleben Angst um die eigene Gesundheit und die von Angehörigen, Gefühle der Isolation und Verlust von Freiheit sowie Angst vor der ungewissen Zukunft.

Aus Medienberichten erfahren wir, dass häusliche Gewalt in der Krisenzeit zunimmt und dass die Einschränkungen oder sogar der Verlust der beruflichen Existenz viele Familien in finanzielle Nöte brachte oder zukünftig bringen wird. Wir hören statistische Erhebungen über Erkrankte und Verstorbene. Jedes Gehörte oder Erlebte löst Stress in uns aus und trägt ein hohes Maß an psychischen Belastungsmomenten. Diese Erfahrungen tragen unsere Schülerinnen und Schüler in ihrem Rucksack mit in die Schule. In jeder Schulform. Wir können dem nur mit unseren pädagogischen Möglichkeiten begegnen.

Es muss Zeit und Raum für die Aufarbeitung geben. Es müssen Gesprächsanlässe geschaffen werden, um Erlebtes anzuschauen und auszutauschen. Phasen der Selbstreflexion und der Neuorientierung müssen gegeben sein. Inhalte wie Trauer um verstorbene Angehörige, Gewalt in der Familie, Gefühle der Einsamkeit und Isolation, Solidarität und Freundschaft, Umgang der Medien und der Politik mit der Krise, Entwicklung einer Zukunftsperspektive werden eine zentrale Rolle spielen. Die pädagogische Bearbeitung könnte fächerübergreifend in Unterrichtsformen wie Projektwochen oder Workshops stattfinden und kann nur mit Unterstützung aller in Schule tätigen Professionen und im multiprofessionellen Team gelingen. Neben der medizinischen Hygiene muss die psychische und soziale Hygiene Priorität haben. Dass dies unter den weiter bestehenden Abstandsregelungen, die Nähe und Austausch unterbinden oder mindestens erschweren, stattfinden muss, ist eine bisher nie gekannte Herausforderung.

Annette Karsten
Referat Sozialpädagogische Berufe

(1) https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/phasen-einer-krise/