Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen

Bildung und Erziehung sind die Schlüssel zur Integration

HLZ 3/2016: Lobbyismus an Schulen

Krieg und Vertreibung, Macht und Unterdrückung, Armut und Perspektivlosigkeit sind die wesentlichen Gründe, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat veranlassen, manchmal sogar gegen eigenes besseres Wissen. Bildung und Erziehung sind die Türen, die man öffnen muss, wenn man dafür eintritt, dass jeder Mensch einen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben hat. Die große Zahl der bei uns Schutz und Perspektive suchenden Menschen stellt die größte Herausforderung der Nachkriegszeit Deutschlands dar. 30 Prozent aller Flüchtlinge weltweit sind Kinder und Jugendliche, die nichts dringlicher brauchen als einen schnellen und ungehinderten Zugang zu Bildung.

Türen zur Integration

Dabei geht es um mehr als nur Deutschlernen, worauf Integration manchmal verkürzt wird. Sprache ist eine wichtige Hilfestellung zur Orientierung, sozusagen das Fundament für Integration. Eine möglichst umfassende Bildung ist die Architektur des Hauses, in das Flüchtlinge einziehen, wenn sie das neue Land als Ort sehen, der ihnen eine neue Identität und eine neue Zukunft geben soll. Zu uns kommen jetzt Kinder und Jugendliche, die mehr an Grausamem und Schrecklichem gesehen und erlebt haben, als wir uns vorstellen können, und die schon lange keine Schulen mehr besucht haben. Sie bringen ihre Wünsche und Leiden, ihre Traumata und Hoffnungen mit und ihre Kultur, die sie bisher geprägt hat. Wer sonst, wenn nicht die Lehrerinnen und Lehrer, die Erzieherinnen und Erzieher sollte diese Aufgabe der Integration durch Bildung übernehmen?

Viele Menschen in unseren Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, die in diesem Eingliederungsprozess eine Schlüsselrolle haben, sehen schon jetzt Migration als „ein Phänomen, das konstruktiv für unsere Gesellschaft ist“. Doch nicht alle teilen die Perspektive des neuen Forschungszentrums für Migration und Globalisierung an der Universität Innsbruck (1).

Ein Vorbild für alle pädagogischen Fachkräfte kann „Ärzte ohne Grenzen“ sein, deren Selbstverständnis Margaretha Maleh, die neue Präsidentin der österreichischen Sektion so formulierte: „Wenn ein Mensch Hilfe braucht, wird er von uns behandelt, unabhängig davon, welcher Religion oder politischen Gesinnung er angehört.“ So sollte es auch „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ geben, die ihren Schülerinnen und Schülern unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Glauben das anbieten, was Lehrkräfte am besten können, nämlich erfolgreich und zugewandt zu unterrichten und junge Menschen auf ihrem Weg in die Gesellschaft und in das Berufsleben zu begleiten.

Dass wir mit dem Vorrang für Bildung auf dem richtigen Weg sind, zeigt der dritte hessische Integrationsmonitor, den Integrationsstaatssekretär Jo Dreiseitel Ende Januar 2016 in Wiesbaden vorstellte (2). Danach verringert sich „der Unterschied zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund bei den meisten Indikatoren langsam aber stetig“.

Viele Schulen praktizieren die viel beschworene Willkommenskultur und stärken so bewusst und gezielt das notwendige Zusammenspiel von Staat und zivilem Engagement, das einen demokratischen Staat auszeichnet. Wenn sich zivile Willkommenskultur und private Unterstützung mit staatlichen Programmen verbinden, was letztes Jahr an vielen Orten zu sehen und zu spüren war, kann man ohne Sozialromantik sagen: „Wir können das schaffen.“ Die wenigen von Abgrenzung und Rassismus geprägten neuen Bewegungen sind zwar ärgerlich, doch stellen sie nicht wirklich eine Gefahr für unsere Demokratie dar.

Als Bürgerinnen und Bürger, aber ganz besonders als Pädagoginnen und Pädagogen mit einem klaren Bildungs- und Erziehungsauftrag dürfen wir es nicht zulassen, dass der Staat, der auf der Basis unseres Grundgesetzes für Recht und Gerechtigkeit, für Sicherheit und Ordnung sorgen und die Menschenwürde aller hier lebenden Menschen gewährleisten soll, ins Schlingern gerät.

Bildung braucht Expertenwissen

In dieser schwierigen Zeit ist es richtig, dass unsere Gewerkschaft darauf besteht, dass die Rahmenbedingungen für diese neuen Aufgaben gut sind, dass Integrationslehrkräfte in Vollzeit an den Volkshochschulen nicht mit 1.200 Euro netto abgespeist werden und dass die Sprachförderung in den Schulen nicht zu Lasten anderer Aufgaben verordnet wird. Bei aller Wertschätzung für die freiwilligen Helfer müssen wir darauf bestehen, dass Erziehung eine hochkomplexe Aufgabe ist, die Expertenwissen benötigt, das durch Good-Will-Aktionen nicht ersetzt werden kann. Die Schulen müssen für die neue Aufgabe der Integration von Zuwanderern personell ausgestattet und die Lehrkräfte individuell fortgebildet werden. Es darf nicht passieren, dass bei den Schulen noch ein weiteres Paket abgeladen wird – nach dem Motto: „Ihr macht das schon.“

Aber grundsätzlich sind unsere Schulen für die Förderung und Integration von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen zuständig und auch in der Lage, dies erfolgreich zu bewältigen. Das Programm des HKM zur schnellen Eingliederung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher ist im Grundsatz gut, aber es muss jetzt schnell und konsequent umgesetzt werden und es müssen weitere personelle und finanzielle Zuweisungen folgen. Für die Umsetzung der Maßnahmen zum Übergang von Schule ins Berufsleben bleibt wenig Zeit. Deswegen sollten die Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung Vorrang haben, weil der Arbeitsmarkt bisher schon für Zuwanderer und besonders für Asylsuchende kaum zugänglich ist. Wir wissen, wie demotivierend erfolglose Bewerbungen auf dem Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt sind und dass es zum Erfolg keine Alternative gibt

Schulen haben eine Mammutaufgabe zu bewältigen, denn sie sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Was wir im öffentlichen Raum erleben, kennen wir aus dem Schulalltag. Auch in der Schule gibt es die jungen männlichen Muslime, die verbal oder körperlich übergriffig werden und für Konflikte sorgen. Aber wir Lehrerinnen und Lehrer verfügen über die notwendigen Kompetenzen – wenn man uns dabei nicht allein lässt Wir haben die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit Heranwachsenden aus fremden Ländern. Wir kennen das Machoverhalten von jungen Türken und Nordafrikanern, ihre übersteigerte Selbsteinschätzung, ihre zur Schau getragenen Männlichkeitsrituale und die übergriffigen Äußerungen und Verhaltensweisen gegenüber Lehrerinnen. Wir wissen viel über das Rollenverständnis patriarchalisch strukturierter Gesellschaften und werden fast täglich damit konfrontiert, dass schon Fünftklässler die vermeintlich bedrohte Ehre der Mutter oder der Schwester wiederherstellen wollen. Nach dem Sittenkodex islamisch geprägter Familien ist die Ehre der Familie sehr eng mit dem Sozial- und Sexualverhalten der weiblichen Familienmitglieder verbunden. Wo immer diese Phänomene auftreten, müssen wir ihnen mit unseren Normen begegnen.

Ein Spiegelbild der Gesellschaft

In diesem Sinne sind Schulen wie der Staat als Ganzes gut beraten, wenn sie eine doppelte Botschaft senden: Ihr seid willkommen, wir unterstützen euch bei einem Neuanfang und helfen euch, eine Perspektive zu entwickeln. Wir bestehen aber darauf, dass unsere Normen, unsere demokratischen Strukturen und die Gleichwertigkeit von Jungen und Mädchen, Frauen und Männern eingehalten werden. Was unsere Werteordnung angeht, kann es keine Kompromisse geben. Je klarer wir deutlich machen, dass die in unserer Verfassung festgelegten Grundsätze gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht verhandelbar sind, umso schneller und erfolgreicher können wir uns an der notwendigen Integration von Zuwanderern beteiligen. Meine Erfahrungen als Schulleiter einer Schule mit Schülerinnen und Schülern aus fast 30 unterschiedlichen Herkunftsländern lehren mich, dass Lehrerkollegien gemeinsam mit Schülerinnen, Schülern und Eltern einen Rahmen schaffen können, um die demokratischen und sozialen Werte und Regeln zu bewahren. In der Schulordnung kann die Schulkonferenz einen Verhaltenskodex aufstellen und Instrumente nutzen, um diese Ordnung auch durchzusetzen.

Voraussetzung ist eine Kultur der Wertschätzung, in der man aufeinander zugeht, Fremdes und Fremde als Bereicherung und nicht als Bedrohung empfindet. Kinder und Jugendliche müssen spüren, dass sie gemocht werden und willkommen sind. Mein Kollege Reinhard Odey, der sich an der IGS Kelsterbach und heute als Lehrbeauftragter im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Uni Frankfurt für eine solches Verständnis von Erziehung stark macht, drückt es mit den folgenden Worten aus:
„Wer Angebote macht und Vertrauen gewinnt, schafft die Basis dafür, dass man unseren Schülerinnen und Schülern auch eigene Leistungen abverlangen kann. Integration sollte daher grundsätzlich auf Kooperation beruhen und nicht umgekehrt.“

Eine Zeitenwende

Langfristig müssen wir davon ausgehen, dass die große Flüchtlingsbewegung nicht nur Europa, sondern auch unsere persönliche Situation verändern wird. Der Journalist Holger Schmale plädiert angesichts der aktuellen „Zeitenwende“ in der Frankfurter Rundschau vom 11. Januar 2016 für einen „starken Staat“, obwohl dieser Begriff nicht gut angesehen ist:

„Wohl gemerkt: Es geht hier um einen starken Staat im Interesse und im Dienste seiner Bürger. Es geht nicht um die Rückkehr zu einem autoritären, übergriffigen, muffigen, sich in die Privatsphäre der Menschen einmischenden System, das die bundesdeutsche Gesellschaft mit dem von der 1968er Bewegung ausgegangenen Aufbruch überwunden hat.“

Schmales Gegenentwurf zu dem von den Neoliberalen verteufelten Staat, der sich immer mehr zurückzieht, ist ein Staat mit einem gut ausgestatteten öffentlichen Dienst,
„ein moderner, gut aufgestellter Staat, der seinen Aufgaben nachkommt und seine Regeln durchsetzt, der mit einer selbstbewussten Bürgergesellschaft kooperiert und sich mit ihr ergänzt. Das ist ein Modell, mit dem Deutschland es schaffen kann, seine zivilen, demokratischen und sozialen Errungenschaften auch in schwierigen Zeiten zu sichern.“

Nein, wir sind den aktuellen Entwicklungen nicht hilflos ausgesetzt. Schließlich ist Deutschland auch nicht ganz unerfahren in der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, wenn man an die 12 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach 1945 denkt. Alle Erfahrungen zeigen, dass die meisten Flüchtlinge, die Deutschland erreicht haben, auch bleiben werden.
Deswegen muss die Integration durch Bildung langfristig geplant sein. Die Schulen brauchen Zeit, um eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens zu schaffen, ohne die eigene Werteordnung in Frage zu stellen.