Verpflichtende Betriebspraktika aussetzen!

Pressemitteilung 5. Januar 2021

Die Landesschüler*innenvertretung, der Landeselternbeirat sowie die GEW Hessen fordern das Kultusministerium dazu auf, in diesem Schuljahr auf die verpflichtende Durchführung von Betriebspraktika zu verzichten. Dazu äußerte sich Landesschulsprecher Dennis Lipowski: „Das Kultusministerium hat das Corona-Schuljahr 2020/2021 von Anfang an unter der falschen Grundannahme geplant, dass es nur zu geringen Auswirkungen des Pandemiegeschehens auf den Schulbetrieb kommen wird. Der aktuelle ‚harte Lockdown‘ belehrt uns alle eines Besseren. Wir verlangen daher, dass die verpflichtende Durchführung von Betriebspraktika ausgesetzt wird. Es ist vollkommen weltfremd, nach wie vor davon auszugehen, dass Schülerinnen und Schüler unter den gegenwärtigen Bedingungen Chancen auf ein zweiwöchiges betriebliches Praktikum haben, das ihnen ernsthaft bei der Berufsorientierung behilflich sein könnte.“

Auch aus der Perspektive der Eltern macht es keinen Sinn, die Schülerinnen und Schüler – wie vom Kultusministerium vorgesehen – zu mindestens drei Bewerbungen zu verpflichten. „Viele Betriebe, in denen üblicherweise Praktika absolviert werden, sind unmittelbar von den Maßnahmen zur Pandemieeindämmung betroffen. Sie arbeiten also nur stark eingeschränkt oder haben den Betrieb vorübergehend ganz eingestellt. Hinzu kommen die verschärften Auflagen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, derentwegen sich kaum ein Betrieb derzeit in der Lage sieht, ein zweiwöchiges Schülerpraktikum zu ermöglichen“, so die stellvertretende Vorsitzende des Landeselternbeirats Susanne Gärtner-Koske. Dennoch verlange das Kultusministerium, dass gegenüber der Schule mindestens drei schriftliche Absagen nachgewiesen werden, bevor ein schulisches Alternativangebot besucht werden dürfe. „So wird ein weiteres, gänzlich unnötiges Frustrationserlebnis für die Schülerinnen und Schüler provoziert. Sie werden zu Bewerbungsschreiben gezwungen, deren Erfolgsaussichten von vorneherein aus nicht von ihnen zu verantwortenden Gründen minimal sind“, ergänzte Gärtner-Koske.

Die Bildungsgewerkschaft GEW geht ebenfalls nicht davon aus, dass das Ziel der Betriebspraktika, nämlich gemäß der Verordnung zur Berufsorientierung exemplarische Einsichten in das Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftsleben zu erhalten, auf diesem Weg erreicht werden kann.

Dazu äußerte sich Birgit Koch, Vorsitzende der GEW Hessen: „Eigene Erfahrungen in der betrieblichen Praxis sammeln, Gespräche mit Betriebsangehörigen führen, das betriebliche Umfeld erkunden – wie sollen diese hohen Anforderungen an das Betriebspraktikum gegenwärtig erfüllt werden? Andererseits gilt es, an den Schulen nach Quarantänemaßnahmen und Schulschließungen Vielerlei nachzuholen. Aus unserer Sicht sollten daher Betriebspraktika in diesem Schuljahr ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgen.“ Gleichwohl seien verstärkte Anstrengungen für die Abschlussjahrgänge erforderlich, um einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung oder Studium sicherzustellen.

„Die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen ist leider bereits vor der Corona-Krise stetig zurückgegangen. Keinesfalls darf es zu weiteren Nachteilen für die jungen Menschen kommen, die ab dem Sommer auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Studienplatz sind. Die schon lange von den Gewerkschaften erhobene Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzgarantie gewinnt daher weiter an Dringlichkeit“, mahnte Birgit Koch.

Zum Hintergrund:

Nach der Verordnung für Berufliche Orientierung in Schulen (VOBO) sind in den verschiedenen Bildungsgängen zwei Betriebspraktika von in der Regel zweiwöchiger Dauer vorgesehen. Durch diese sollen die Schülerinnen und Schüler die Berufs- und Arbeitswelt am spezifischen Arbeitsplatz erfahren, Einblicke in Arbeitstechniken erhalten und sich mit typischen Arbeitsabläufen vertraut machen. Sie sollen darüber hinaus Kenntnisse und Fertigkeiten in der Praxis anwenden und an der Realität messen, Kenntnisse über die Realität der Berufsausübung im betrieblichen Sozialgefüge erwerben, Einblicke in wirtschaftliche und technische Zusammenhänge gewinnen und Unternehmen oder Betriebe als Feld sozialer und ökonomischer Beziehungen erfahren, für berufliche und schulische Ausbildung motiviert werden und Erfahrungen sammeln, um Orientierungen auf traditionell geschlechtsspezifisch besetzte Berufe aufzulösen.

In dem Schreiben „Durchführung von Betriebspraktika, Werkstatttagen und sonstigen Berufsorientierungsmaßnahmen an allgemein bildenden Schulen im Schuljahr 2020/21“ hat das Kultusministerium am 13. Oktober 2020 für das laufende Schuljahr die Verschiebung des Betriebspraktikums auf das 2. Halbjahr ermöglicht. Nach der Vorlage von mindestens drei schriftlichen Absagen wird darüber hinaus die Teilnahme an einem gleichwertigen schulischen Alternativangebot ermöglicht. Darunter werden u.a. der Besuch von virtuellen Berufsbildungsmessen, der Besuch von handwerklichen Bildungszentren oder berufsbezogene Projektarbeit gefasst. Die Schülerinnen und Schüler müssen in diesem Fall anstelle eines Praktikumsberichts eine Ersatzleistung erbringen, welche im Rahmen der Leistungsbewertung berücksichtigt werden kann.