Bildungsgerechtigkeit: Eine Replik

Plädoyer für eine klassismuskritische Perspektive

HLZ 7-8/2022: Rechtsanspruch Ganztag?

Um „Klassenstrukturen an Hochschulen“ ging es in dem Artikel „Rückkehr zur Klassenfrage?“ von Henning Tauche und Jutta Hergenhan in der HLZ 12/2021 (1). Eine zur Illustration des Beitrags von der Redaktion ohne Rücksprache mit den Autor:innen ausgewählte Karikatur von Thomas Plaßmann motivierte Jörg Schlömerkemper, Professor im Ruhestand an der Goethe-Universität Frankfurt, zu einer Replik, die in der HLZ 4/2022 veröffentlicht wurde. Die Karikatur zeigt eine an ihrem Pult sitzende Lehrerin und eine vor ihr stehende, traurig dreinblickende Schülerin in einem Klassenraum. Die Lehrerin tätschelt anerkennend den Kopf der Schülerin und sagt: „Ganz prima Lisa!!.. Wären Deine Eltern Akademiker, könnte echt was aus Dir werden!!“ Auch wenn sich der Beitrag von Jörg Schlömerkemper nicht explizit auf den Inhalt ihres Beitrags bezog, möchten Henning Tauche und Jutta Hergenhan die Gelegenheit nutzen, sich noch einmal zum Thema Bildungsgerechtigkeit aus klassismuskritischer Perspektive zu äußern.

Jörg Schlömerkemper regt in seinem Artikel an, über die folgenden Fragen zu diskutieren:
„Was wollen wir eigentlich, was wäre im Interesse der Heranwachsenden wichtig und reden wir darüber mit angemessenen Begriffen?“
Diese Debatte halten auch wir für wichtig. Aus klassismuskritischer Perspektive scheinen uns drei Aspekte diskussionswürdig, die Jörg Schlömerkemper – ohne sie sich vollständig zu eigen zu machen – in seinem Text aufwirft:

  • die Rechtfertigung verweigerter Bildungsmöglichkeiten mit dem Hinweis auf das Wohl des Kindes
  • die Ausrichtung pädagogischen Handelns am Prinzip der Anerkennung
  • ein an „hohen“ Bildungsabschlüssen orientiertes Verständnis von „gesellschaftlichem Erfolg“

Jörg Schlömerkemper äußert sich kritisch dazu, dass Kinder aus nicht-akademischen Haushalten in der Grundschule trotz vergleichbarer Leistungen häufig keine Empfehlung bzw. Berechtigung zum Übergang auf das Gymnasium erhalten. Wir stimmen ihm zu, dass dies aus Gleichheitsgesichtspunkten höchst problematisch ist.

Exklusion zum Wohl des Kindes?

Nun gibt Jörg Schlömerkemper jedoch zu bedenken, dass dies durchaus dem „Wohl des Kindes“ dienen könne:
„Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Kind, das ohne elterliche Unterstützung auf das Gymnasium ‚geschickt‘ wird, dort mit den steigenden Anforderungen nicht mithalten könnte.“

Zudem sei „ein ‚akademischer‘ Habitus“, wie er „jedenfalls an traditionell orientierten Gymnasien“ herrsche, „zumindestens hilfreich“. Daran zu scheitern, könne „das „Selbstwertgefühl dauerhaft beeinträchtigen“. Dies, so muss also geschlussfolgert werden, sei dem „armen“ Kind besser zu ersparen – und damit auch die Chance auf einen späteren akademischen Werdegang.

Diese Position verkennt nicht nur, dass der Habitus eines Menschen sich im Laufe eines Lebens wandeln kann und damit durchaus transformationsfähig ist. Sie unterstellt auch, dass Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen „ohne elterliche Unterstützung“ auskommen müssten. Zwar ist es für einkommensschwache Eltern oder Familien wesentlich schwieriger bis unmöglich, die finanziellen Ressourcen für Nachhilfeunterricht oder zusätzliches Lernmaterial aufzubringen. Sie sind jedoch mitnichten generell als „sozial schwach“ zu betrachten, da sie häufig erhebliche persönliche und psychische Ressourcen mobilisieren, um ihre Kinder zu unterstützen (2).

Die Verengung des Begriffs der „Unterstützung“ auf das Vorhandensein elterlichen Oberstufenwissens, sozialer Netzwerke und finanziell-materieller Ressourcen ist unzureichend. Darüber hinaus müssen eben auch emotionale Unterstützung, kulturelles Kapital in einem weiteren Sinne und ein empathisches Interesse für die schulische Situation des Kindes mitgedacht werden, ohne dabei die besonders prekären Lebenslagen vieler Familien und Eltern zu verklären.

Soziale Ausschlussmechanismen wie die Vergabe von Gymnasialempfehlungen am Ende der Grundschulzeit mit dem Hinweis auf das „Kindeswohl“ zu begründen, erscheint somit höchst problematisch. Zweifelsohne müssen Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen ein hohes Maß an Energie und Kapazitäten aufbringen, um mit dem „akademischen“ Habitus ihrer Mitschüler:innen mithalten bzw. ihren Habitus transformieren zu können. Die daraus abzuleitende Schlussfolgerung kann jedoch keinesfalls die Exklusion dieser Schüler:innen von diesem Bildungsweg sein. Sie müsste vielmehr darin münden, die Struktur, die gesellschaftliche Funktion und die Praxis der Schule grundsätzlich in Frage zu stellen.

Wenn die „emotionalen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden“ am Gymnasium distanzierter sind „und der Auslese- und Konkurrenzdruck“ für die betroffenen Schüler:innen zunimmt, wie Jörg Schlömerkemper behauptet, dann sollte eben dies Gegenstand der Kritik sein.

Alles eine Frage der Anerkennung?

Weiter fordert Jörg Schlömerkemper eine größere Wertschätzung für all die Tätigkeiten, „für die keine akademische (Aus-)Bildung erforderlich ist“:
„Diese Anerkennung sollten ‚höher‘ Gebildete nicht gnädig ‚gewähren‘, sondern im Sinne der Würde des Menschen selbstverständlich zum Ausdruck bringen.“

Dabei schließt der Autor an die Überlegungen der heterogenitätssensiblen Anerkennungspädagogik (3) und damit an die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (4) an.

Dieser Pädagogik der Anerkennung geht es darum, Unterschiede als positive Differenzen zu verstehen, „die es zu fördern und anzuerkennen gilt, um ihnen einen positiven Wert im Bildungsgeschehen einzuräumen und auch die Wirkung subtil stigmatisierender, diskriminierender und marginalisierender Mechanismen zu mindern“ (5).

Diesem Ansatz ist sicherlich für die pädagogische Praxis viel Gutes abzugewinnen – gerade auch hinsichtlich des Umgangs mit einem konfligierenden Habitus. Aus klassismuskritischer Perspektive lässt sich jedoch bemängeln, dass diese Fokussierung auf Anerkennung soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Verhältnisse verdeckt. Dass in kapitalistischen Gesellschaften die verschiedenen sozialen Positionen nicht allein durch Anerkennung zueinander in Beziehung treten können, sondern weiterhin mit unterschiedlichen Lebenschancen und unterschiedlichen Zugängen zu Ressourcen, Macht und Gesundheit verbunden sind, gerät dabei in den Hintergrund und affirmiert somit gesellschaftliche Hierarchien.

Auch dem Klassismusbegriff wird zuweilen vorgeworfen, bloß um kulturelle Anerkennung von finanziell oder kulturell benachteiligten Personen im Sinne einer „Antidiskriminierungspolitik“ bemüht zu sein, ohne die Klassengesellschaft an sich infrage zu stellen. Diese Kritik beruht jedoch auf einer (bewusst) verkürzten Rezeption: Das Potential des Klassismusbegriffs liegt gerade darin, dass er identitätspolitische, antidiskriminierende und gesellschaftskritische Dimensionen zusammen denkt. Er fungiert sowohl als Marker alltäglicher Diskriminierungen aufgrund sozialer Herkunft oder Position wie auch als Kritikform, die die Abschaffung der Klassengesellschaft zum Ziel hat.

Bildung klassismuskritisch denken

Jörg Schlömerkemper formuliert im letzten Abschnitt seines Textes ein alternatives Verständnis von dem, was es heißt, „etwas zu werden“. Für ihn „wird aus Kindern etwas“, wenn sie ihr „je eigenes Profil ihrer Kompetenzen“ ausprägen – und das ähnlich dem Bildungsideal Wilhelm von Humboldts, wonach „der wahre Zweck des Menschen (...) die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ ist.

Gleichwohl darf dies nicht zur praxeologischen Rechtfertigung werden, um Schüler:innen aus nicht-akademischen Elternhäusern den Bildungszugang zu verwehren. Gerade die von Jörg Schlömerkemper aufgeführte Tatsache, dass Kindern aus nicht-akademischen Familien bei gleicher schulischer Leistung am Ende ihrer Grundschulzeit eine Empfehlung für das Gymnasium weitaus häufiger versagt wird, als dies für Kinder aus Akademiker:innenfamilien der Fall ist (6), zeigt hinreichend, dass diesen Schüler:innen der Erwerb fachlicher Fähigkeiten und Kompetenzen systematisch abgesprochen wird. Eine bloße Neudefinition von gesellschaftlichem Erfolg in pädagogischen Diskursen kann allzu leicht zu einer ungewollten Legitimierung sozialer Ungleichheit führen.

Gerade in pädagogischen Diskursen kann ein antiklassistisches Verständnis dafür sorgen, dass gesellschaftliche Verhältnisse, sozio-ökonomische Disparitäten und Ungleichheiten stärker in den Blick genommen werden, ohne dabei Fragen der Anerkennung und des individuellen „Kindeswohls“ in den Hintergrund treten zu lassen. Pädagog:innen sollten dabei die gesellschaftliche Tragweite ihres Handelns mitreflektieren.

Insofern müsste die Abschlussfrage von Jörg Schlömerkemper vielleicht erweitert oder aus einer ganz anderen Richtung gedacht werden: Was für ein Bildungssystem benötigen wir eigentlich, um die leidige Frage der Gymnasialempfehlung unbedeutend werden zu lassen? Und wie können wir von einer individualisierten Betrachtung von Bildungsgerechtigkeit hin zu einem weniger hierarchischen, nicht exkludierenden und demokratischen Bildungssystem kommen?

Henning Tauche und Jutta Hergenhan


Henning Tauche ist Referent im AStA der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied im Landessprecher:innenteam der GEW-Studierenden in Hessen. Dr. Jutta Hergenhan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

(1) www.gew-hessen.de
(2) Fallbeispiele findet man hier: Hock, B., Holz, G. & Wüstendörfer, W. (2017). Folgen familiärer Armut im frühen Kindesalter – Eine Annäherung anhand von Fallbeispielen: Dritter Zwischenbericht zu einer Studie im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt (2. Aufl.). Frankfurt am Main: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.
(3) Benno Hafeneger, Peter Henkenborg & Albert Scherr (Hrsg.). (2013). Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach, Taunus: Wochenschau;  Prengler, A. (1995). Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Opladen: Leske und Budrich.
(4) Honneth, A. (1992). Kampf um Anerkennung: Zur Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
(5) Mecheril, P. und Vorrink, A. J. (2017). Chancengleichheit und Anerkennung: Normative Referenzen im Diskurs um Heterogenität und Bildungsgerechtigkeit. In: T. Bohl, J. Budde & M. Rieger-Ladich (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht: Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen (S. 43-59). Heilbronn: Julius Klinkhardt. S. 53
(6) Hußmann, A. u.a. (Hrsg.) (2017). IGLU 2016: Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. S. 244