Ein Grund zum Feiern?

Die Vorklasse an hessischen Grundschulen wird 70

HLZ 7-8/2022: Rechtsanspruch Ganztag?

Nächstes Jahr ist es soweit: die Einrichtung der Vorklasse in Hessen jährt sich zum 70. Mal. Für Susanne Leiner, Vorklassenleiterin seit 30 Jahren und aktives Mitglied im Arbeitskreis „Pro Vorklasse“, ist das ein guter Anlass, die bisherige Entwicklung, das große Potenzial der Vorklasse und die derzeitigen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen. Im Schuljahr 2019/2020 gab es 258 Vorklassen an Grundschulen und 57 Vorklassen an Förderschulen. Der folgende Beitrag befasst sich ausschließlich mit den Vorklassen an Grundschulen.

Vorklassen können an Grundschulen und bestimmten Förderschulen eingerichtet werden. Vorklassen an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen gibt es seit 2011 nicht mehr. Vorklassen haben als präventive Maßnahme das Ziel, schulpflichtige Kinder mit Entwicklungsverzögerungen zu fördern und in ihren Kompetenzen zu stärken, um ihnen einen guten Start in der kommenden ersten Klasse zu ermöglichen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Vorklasse an Grundschulen.

Vorklassen sollen nach § 18 des Hessischen Schulgesetzes „in besonderem Maße dem unterschiedlichen körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungsstand der Kinder Rechnung“ tragen und „durch die Verbindung von sozialpädagogischen und unterrichtlichen Lern- und Arbeitsformen“ den Übergang in die Grundschule erleichtern. Nach § 10 der Verordnung zur Ausgestaltung der Bildungsgänge und Schulformen ist es das Ziel der Vorklasse, „die Kinder so weit zu fördern, dass sie in der Jahrgangsstufe 1 erfolgreich mitarbeiten können.“

Auch der Rahmenplan für die Arbeit in der Vorklasse an der Grundschule aus dem Jahre 1991 ist weiter gültig und eine gute rechtliche Handlungsgrundlage für die pädagogische Arbeit in der Vorklasse. Er betont, dass es bei der Förderung der angestrebten Schulfähigkeit nicht ausschließlich um die kognitive Förderung geht, sondern ebenso um die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit im emotionalen, sozialen und auch motivationalen Bereich im Sinn der Schulbereitschaft:

„Ziel der Vorklassenarbeit an Grundschulen ist es, unter Berücksichtigung des indiviuellen Entwicklungsstandes und der vorangegangenen Umwelterfahrungen der Kinder die Lernfähigkeit anzuregen und zu entfalten und Schulfähigkeit und Verhaltensweisen zu fördern, die für das Lernen im Anfangsunterricht und in der Gruppe notwendig sind.“ (1)

Heute spricht man von den Basis-, Lern- und Sozialkompetenzen, von den exekutiven Funktionen, von einem sicheren Bindungsverhalten, weiß um die wichtigen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und die Bedeutung eines positiven stabilen Selbstkonzepts, um neuen Situationen und Anforderungen mit der notwendigen Zuversicht zu begegnen. Hierfür sind entscheidende Entwicklungsaufgaben im Leben eines jeden Kindes zu bewältigen, die es in der Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen und auch mit anstehenden Lernanforderungen vollzieht.

Lernen in der Gemeinschaft

Hier setzt der sozialpädagogische Ansatz an, der Aspekte der sozialen Gruppenarbeit beinhaltet. Die sozialen Nah-Beziehungen und persönlichen Lernerfahrungen im Gruppenprozess sind für den individuellen Entwicklungsprozess ausschlaggebend. Die individuelle Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich im sozialen Miteinander, das einen wesentlichen Schwerpunkt des pädagogischen Handelns in der Vorklasse ausmacht (2). Auf die entscheidende Bedeutung der positiven Beziehung und Bindung zwischen der Vorklassenleitung und den Kindern und dem Umgang der Kinder untereinander weist der Rahmenplan daher ausdrücklich hin.

Es gilt also, eine Gemeinschaft zu entwickeln, die einen sozialen Rückhalt durch das sichere Eingebundensein ermöglicht. Die Gruppe fungiert in dem gemeinsamen Vorklassenjahr als Ort und Medium sowohl individueller als auch sozialer Reifung und verbindet subjektive Entfaltungsmöglichkeiten und kooperative Interaktionen in der Auseinandersetzung mit Lernanforderungen und Sachinhalten. Es bedarf der professionellen Prozessgestaltung und -begleitung in einer deutlich überschaubaren Gruppe, damit sich die sozialen Kräfte positiv entfalten und so zur persönlichen Gesamtentwicklung des einzelnen Kindes beitragen können. Unter guten Rahmenbedingungen kann sich so eine soziale Gemeinschaft entwickeln, die von einem dialogischen Miteinander auf Augenhöhe mit Herz und Humor geprägt ist:

„Häufig sind es nur kleine Anforderungen, die es dem Kind in der Sicherheit seines grundsätzlichen Angenommenseins ermöglichen, sich auf innere Ambivalenzen und Irritationen einzulassen. Dann wird es möglich, im dialogischen Miteinander unterschiedliche Bedürfnisse und Sichtweisen zu beleuchten, zu benennen und gegeneinander abzuwägen. Dies kann dem Kind den Blick für eine komplexere Außenwelt und für neue Handlungsoptionen eröffnen.“ (3)

Dadurch gewinnen situativ entstehende und ungeplante kleine „Vorkommnisse“ einen pädagogischen Sinngehalt für die weitere Entwicklung des einzelnen Kindes. Der pädagogische Handlungsspielraum, das situativ und bedarfsorientierte Aufgreifen oder auch gezielte Initiieren von anstehenden Entwicklungsaufgaben und der hierfür notwendige zeitliche Rahmen unterscheiden die Vorklasse im Wesentlichen von den anderen Modellen wie Eingangsstufe und Flex – wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen!

Gruppengröße als Erfolgsfaktor

Eine maßgebliche Gelingensbedingung für den pädagogischen Handlungsauftrag der individuellen Förderung ist die Gruppengröße. Der Handlungsspielraum, bedarfsorientiert und situativ auf die Bedürfnislage des einzelnen Kindes einzugehen, schwindet mit der wachsenden Gruppengröße. Es entfaltet sich eine restriktive Wirkung, die dem besonderen Förderanspruch eindeutig entgegensteht, der Vorklassenkindern mit der Rückstellung vom Schulbesuch aufgrund der Entwicklungsverzögerungen in den verschiedenen Bereichen zugestanden wird. Schließlich gilt es wesentliche psychische Grundbedürfnisse zu wahren: das Bedürfnis nach aktivem, selbstständigem Lernen, das Bedürfnis nach Kommunikation, Kooperation und sozialen Kontakten, die soziale Anerkennung, Bestätigung und Vernetzung mit sich bringen, und das ebenso wichtige Bedürfnis nach einer vertrauenserweckenden, überschaubaren Lerngruppe und Lernprozessen, die Sicherheit und Berechenbarkeit vermitteln. (4)

Bei der Einrichtung von Vorklassen im Jahr 1953 wurde dem pädagogischen Anspruch der kleineren Lerngruppe zunächst mit der Festlegung der Gruppengröße auf maximal 20 Kinder begegnet – vor dem damaligen Hintergrund wesentlich größerer Schulklassen in allen Schulformen. Diese Vorgabe gilt bis heute unverändert für alle Vorklassen an Regelschulen, obwohl die Klassen- und Lerngruppengrößen in den Regelschulen pädagogisch sinnvoll und bedarfsorientiert kontinuierlich abgesenkt wurden. Auch die Schwerpunktvorklassen an Förderschulen wurden verkleinert. Die Absenkung der Klassenobergrenze an Grundschulen auf 25 hat dazu geführt, dass sich die durchschnittliche Klassengröße an Hessens Grundschulen auf knapp 20 Kinder reduziert hat. Gleichzeitig können die Vorklassen noch immer bis an die zugelassene Höchstzahl von 20 „aufgefüllt“ werden.

Auch die Vorgabe im Erlass zur Organisation der Vorklassen an Grundschulen vom 27.2.1990, wonach in der Regel „eine Vorklasse für ein Einzugsgebiet von sieben Klassen des ersten Schuljahres der Grundschule“ eingerichtet werden soll, wird heute oftmals missachtet. (5)

Arbeitskreis „Pro Vorklasse“

Die Vorklassen werden nicht von Lehrerinnen und Lehrern, sondern von sozialpädagogischen Fachkräften mit einem Diplom- und Masterabschluss in Pädagogik, Sozialpädagogik, Sozialer Arbeit oder Kindheitspädagogik oder entsprechenden Bachelorabschlüssen und einer nachgewiesenen Berufserfahrung geleitet. Vorklassenleiterinnen, die sich im Arbeitskreis „Pro Vorklasse“ engagieren, wandten sich im Februar 2021 mit den folgenden Forderungen an den Petitionsausschuss des Landtags:

  • Absenkung der Schülerhöchstzahl auf 15 Kinder als wichtige Voraussetzung für die Erfüllung des sozial- und bildungspädagogischen Auftrags
  • durchgängige Doppelbesetzung bei fehlenden räumlichen Voraussetzungen für eine zweite Vorklasse
  • Absenkung der Schülermindestzahl auf acht Kinder mit dem Ziel des Erhalts von Vorklassenstandorten und der wohnortnahen Beschulung

Doch statt auf die Argumente und Erfahrungen der Vorklassenleiterinnen einzugehen, versuchte das Hessische Kultusministerium (HKM) die Missstände mit dem Hinweis auf Durchschnittszahlen zu verschleiern, die noch „unter der geforderten Zahl von 15 Schülerinnen und Schülern“ liegen würden. Mit den täglichen Erfahrungen von Vorklassenleiterinnen haben diese Beschwichtigungen nichts zu tun. Die Reduzierung von Standorten führt nämlich oft dazu, dass Schülerinnen und Schüler „umgelenkt“ und die Gruppen in der Nachbarschaft „aufgefüllt“ werden, statt dem öffentlichen Bedürfnis folgend Vorklassen entsprechend der Zahl der Rückstellungen einzurichten.
Der personelle Mehrbedarf zur Erfüllung der Forderungen wäre überschaubar: Das HKM bezifferte ihn im selben Jahr auf 42 Stellen bei einer Absenkung der Obergrenze auf 15 Kinder bzw. auf 11,7 Stellen bei einer Absenkung der Klassenobergrenze auf 18 Kinder (6). Eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Christoph Degen erbrachte weitere aufschlussreiche Zahlen (7):

  • Fünf der 258 Vorklassen an hessischen Grundschulen erreichen die maximale Klassengröße von 20 Schülerinnen und Schülern.
  • Ein Fünftel (20,3 %) aller Vorklassen an Hessens Grundschulen wird von mehr als 15 Kindern besucht.
  • Jedes dritte Kind (33,4 %) ist in einer Vorklasse mit 15 oder mehr Kindern.

Zurück zur Ausgangsfrage: Gibt es einen Grund zum Feiern? Nein! Ein echter Grund zum Feiern wäre es für mich, wenn die maximale Klassengröße der Vorklassen in der kommenden Klassengrößenverordnung auf 15 Kinder reduziert wird. Der pädagogische Nutzen rechtfertigt den finanziellen Mehrbedarf in jedem Fall. Das zusätzliche Entwicklungsjahr hat vor allem hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung eine hohe Bedeutung für die weitere Schul- und auch Lebenslaufbahn. Hier können Weichen für gelingende Bildung, positive Persönlichkeitsentwicklung und erfolgreiche Sozialisation gestellt werden. Der Zugang zum Bildungsort Schule wird im Sinne der Chancengleichheit geebnet. Damit kann die Stärkung eines jeden Kindes in der Vorklasse als Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit betrachtet werden – und in vielen Fällen auch als Wegbereiter für gelingende Inklusion!

Susanne Leiner
Arbeitskreis „Pro Vorklasse“

Kontakt: www.vorklasse.de  


(1) Amtsblatt 1991 vom 15.3.1991, S.120
(2) Pro Vorklasse (Hrsg.): Vorklasse als Chance. Überarbeitung 2019, www.vorklasse.de
(3) Walter Lotz, Pädagogik an der Schwelle zur Schulfähigkeit. In: Vorklasse als Chance. a.a.O.
(4) vgl. Heinz Klippert, Selbstständiges Lernen fördern. 2022
(5)  Amtsblatt 4/1990, S.351
(6) Auskunftsersuchen des Landtagsabgeordneten Christoph Degen, Antwort des Hessischen Kultusministeriums vom 9.12.2020
(7) Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Christoph Degen, Landtagsdrucksache 20/2170 vom 31.3.2020