Rassismuskritik und Empowerment

Bildungseinrichtungen brauchen Konzepte gegen Diskriminierung

HLZ 7-8/2022: Rechtsanspruch Ganztag?

Die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen ist Teil des pädagogischen Alltags, nicht jedoch, sie diskriminierungskritisch zu berücksichtigen. Bundesweit haben 39 % aller Kinder von 0 bis 5 Jahren, 37 % aller Kinder von 5 bis 10 Jahren und ein Drittel aller Schüler:innen einen Migrationshintergrund (1).

Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen brauchen eine rassismuskritische Analyse, was in den Einrichtungen an homogener „Normalität“ über Angebote, Lern- und Spielmaterialien vermittelt wird. Studien der Antidiskriminierungsstelle mahnen an, dass der jetzige Umgang mit den Kindern zu Verletzungen und Erfahrungen von Abwertung führt (2). Kann dieses Drittel der Kinder sich im Anbetracht von unkommentierten Diskriminierungen zugehörig und wertgeschätzt fühlen? Es fehlen flächendeckende Konzepte in den Einrichtungen zum Umgang mit Diskriminierung, denn nur sie können gewährleisten, dass alle Kinder - und nicht nur ein Teil – ihre Persönlichkeit entfalten können. Eine weit verbreitete Haltung im Umgang mit der Vielfalt der Kinder ist zu sagen: „Für mich sind alle gleich“. Der Ansatz ist wenig hilfreich für diversitätssensibles Handeln, denn erst mit der Wahrnehmung der Unterschiede und mit der Reflexion über Erfahrungen entlang eines Merkmals des Kindes beginnt auch die Wahrnehmung von Auslassungen, Ausgrenzungen und Abwertungen, die Kinder leider in Bildungsinstitutionen wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religionszugehörigkeit und zugeschriebener Kultur erleben. Fachkräfte in Kitas, Jugendeinrichtungen oder Schule müssen auf gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen blicken und Stereotype in den eigenen Köpfen im Hinblick auf die Wahrnehmung und Bewertung der ihnen anvertrauten Kinder hinterfragen. Empowerment-Orientierung versucht bewusst, diese Zuschreibungsprozesse durch Pädagog:innen abzubauen und die Kinder in ihrer Identität sichtbar einzubeziehen (3). Ein eher homogenes Normalitätsverständnis schwächt die Bereitschaft von Fachkräften, das eigene Verhalten auf pauschale Zuschreibungen hin zu reflektieren, was die Kinder erneut einschränkt, individuelle Rückmeldungen zu bekommen.

Für nachhaltige strukturelle Veränderungen müssen Gelder bereitgestellt werden, Gelder, um die Fachkräfte darin zu schulen, ihre Vorurteile, automatisierten Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren, Gelder, um interne Prozessbegleitung zu finanzieren, andere Lehr- und Kinderbücher anzuschaffen und um Empowerment-Räume mit kompetenten Trainer:innen zu finanzieren.

Rassistisch markierte Kinder

Kinder werden leider in Bildungseinrichtungen nicht gleichbehandelt, Diskriminierungen werden heruntergespielt oder ignoriert. Dabei liegt es in ihrer Verantwortung, Diskriminierungsschutz zu bieten (4). Vor allem Kinder mit nicht-christlicher Religion, Schwarze Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund erleben in Kitas und Schulen Abwertungen, Auslassungen und rassistische Zuschreibungen durch Fachpersonal und andere Kinder. Zu den defizitären Vorannahmen und Zuschreibungen kommt vielfach eine eurozentristische Monokultur in der Ausstattung und in Spiel- und Lerninhalten hinzu. Die vielfältigen Lebenswelten und Herkünfte der Kinder bleiben unbeachtet, was sie selbst als „Leerstellen“ wahrnehmen. Ihnen wird in der Phase der Identitätsentwicklung deutlich gemacht: Sie sind „anders“ und ihre Zugehörigkeit ist nicht gewünscht, denn sie werden nicht geschützt.

Die Verunsicherung von Fachkräften, ob sie auf diskriminierende Äußerungen reagieren sollen, verstärkt das Gefühl der betroffenen Kinder, ausgeliefert zu sein. Diese schmerzhaften Erlebnisse werden in das kindliche Selbstkonzept eingebunden und haben weitreichende Folgen für Selbstwert und Selbstwirksamkeitsgefühl. Sie können die gesamte Persönlichkeitsentwicklung negativ beeinflussen und zu Ängsten, sozialem Rückzug, Selbstablehnung und somatischen Beschwerden führen. Das Gefühl, weniger wert zu sein, engt den Zugang zu Fähigkeiten und Potenzialen ein.

Die Botschaften, die die Fachkräfte den Kindern senden, werden von diesen verinnerlicht. Gerade Leitungskräfte sollten die Empowerment-Orientierung in der Einrichtung immer als ein notwendiges strukturelles Angebot mitdenken. Alle Bildungseinrichtungen sollten die Vielfalt von Hautfarben, körperlichen Fähigkeiten, Sprachen, Familienformen, Religionen und Herkunftsländern allen Kindern wertschätzend vermitteln und Kindern nahe bringen, dass Ausgrenzung, negative Bewertung oder Spott nur wegen eines Merkmales ungerecht sind. So können sich Kinder aufgehoben fühlen und emotionale Verletzungen und Minderwertigkeitsgefühle minimiert werden. Dafür gibt es Schulungen zur Selbstreflexion und Kommunikation und Anleitungen für Gespräche in Diskriminierungsfällen.

Geschützte Räume einrichten

In Diversity-Trainings und in geschützten Räumen erzählen Jugendliche, Eltern und Erwachsene traumatische Erlebnisse, die sie unter anderem in Bildungseinrichtungen erfahren haben. Für mein Buch konnte ich in den Austausch mit erfahrenen PoC- und Schwarzen Empowerment-Trainer:innen gehen (5). Diese Trainer:innen bündeln machtkritisches Wissen zum Rassismus, der sich gegen Schwarze Menschen richtet, und bilden teilweise selbst Empowerment-Trainer:innen aus. Sie sind übereinstimmend der Meinung, dass Empowerment-Räume (Safer Spaces) benötigt werden, in denen Kinder und Jugendliche „sie selbst sein können“, ohne mit Projektionen konfrontiert zu werden. Diese Safer Spaces können als Angebot mit Trainer:innen oder mit Fachkräften mit eigenen Rassismuserfahrungen und Reflexion zum Thema in der Einrichtung organisiert werden. Empowerment-Prozesse ermöglichen die eigene Neudefinition ohne Zuschreibungen, Emanzipation durch Sichtbarkeit, diasporisches Wissen, Community-Arbeit, Vertrauen und Zeit. Die Kinder können ihre Erfahrungen angstfrei austauschen und in den Safer Spaces erleben, dass sie mal nicht „der oder die Einzige“ sind und ihre Rassismuserfahrungen nicht nur sie selbst betreffen. In den Schutzräumen unter Anleitung erfahrener Trainer:innen haben die Kinder Zeit und Raum, Verletzungen zu transformieren und Visionen zu entwickeln. Kleinere Kinder stärkt es, mit Kindern mit denselben Merkmalen zu spielen und Medien und Bücher zu lesen, in denen sie sich und ihre Erfahrungen spiegeln können.

Wege zum Empowerment

Empowerment-orientiert und diskriminierungskritisch pädagogisch zu arbeiten, bedeutet, Strukturen zu analysieren und zu verändern bzw. den Bedarfen der Kinder an Sichtbarkeit, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit anzupassen. Verletzungen und Abwertungen durch Spiele und Bücher oder durch Aussagen von Pädagog:innen oder anderen Kindern sollten demgegenüber nicht mehr unbeachtet bleiben. Es ist wichtig, auf Strukturen in der Einrichtung und auf das Verhalten und die Einschätzungen von Fachkräften genauer zu schauen.
Auf dem Weg zur Empowerment-Orientierung in der Einrichtung sind die folgenden diversitätssensiblen und rassismuskritischen Veränderungen erforderlich:

  • Fachkräfte müssen die eigene Positionierung reflektieren, d.h. die eigene Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Religionszugehörigkeit, Nationalität, sexuelle Identität, den eigenen sozialen Status und die daran gebundenen Erfahrungen und Normalitätsvorstellungen.
  • Einstellungsmodi und Bewerbungsverfahren müssen überdacht werden, um auch bei den Fachkräften Vielfalt zu repräsentieren.
  • Welche Vielfalt ist in der Einrichtung sichtbar und in ihr Miteinander thematisch eingebunden? Gibt es eine wertschätzende Repräsentanz von verschiedenen Lebenswelten bei Festen, Aktivitäten, Spielen, Liedern, Vorbildern und kulturellen Bräuchen? Gibt es ein Ausmalbuch mit Schwarzen Helden wie „Entdecke die Welt als Afro-Held“ oder nur einen Hautfarbenstift?
  • Die Vielfalt migrantischer Lebenswelten ist bewusst einzubinden und Stereotype und rassistische Spielmaterialien sind aus Spielen und Büchern auszusortieren.
  • Einrichtungen brauchen ein hohes Maß an diversitätssensibler Kommunikation ohne Überbetonung von Merkmalen und pauschalen Zuschreibungen.
  • Schulungen sensibilisieren gegen unbewusste Abwertungen, vorurteilsbehaftete Verhaltensweisen und stereotype Beurteilungen entlang zugeschriebener kultureller Unterschiede und vermitteln Wissen über rassismuskritische Sprache.
  • Empowerment-Schutzräume nur für Kinder mit Migrationsgeschichte werden regelmäßig von Empowerment-Trainer:innen oder Fachkräften mit eigener Rassismuserfahrung angeboten.

Nkechi Madubuko


Nkechi Madubuko ist promovierte Soziologin, Diversity-Trainerin und Dozentin an der Uni Kassel. Der Artikel bündelt in Auszügen das „Praxishandbuch Empowerment“.
 
(1) Statistisches Bundesamt (2018): Schulen auf einen Blick
(2) 12. Bericht der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration (2019)
(3) Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2013): Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben
(4) Nadine Golly (2015): „Es ist gut, dass du bist, wie du bist ...“ Perspektiven für Schwarze Kinder in Kindergarten und Schule, In: Spiegelblicke, herausgegeben von Hadija Haruna-Oelker und Denise Bergold-Caldwell. S.233-237.
(5) Nkechi Madubuko (2021): Praxishandbuch Empowerment. Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen begegnen. Beltz Verlag 2021