„Aus Überzeugung für beste Bildung“

Ist „Bildungsgerechtigkeit“ ohne „Systemdebatten“ möglich? | HLZ Februar 2024

 

An allererster Stelle im Koalitionsvertrag steht ein langes Kapitel „Bildung“, was wohl ausdrücken soll, dass dies ein ganz wichtiges Themenfeld sei und hier besonders viel getan werden solle. Es beginnt mit einer Unwahrheit. Bildung sei „der Schlüssel für sozialen Aufstieg“, steht da, so als ob nicht gerade eben in der Auswertung der PISA-Studie wieder einmal darauf hingewiesen worden wäre, dass genau umgekehrt der Bildungserfolg der Kinder in Deutschland stark vom sozioökonomischen Status des Elternhauses abhängt. Viel mehr übrigens als in den Ländern, die am besten abschnitten.


Eine Absicht, daran etwas zu ändern, drücken die Koalitionäre nicht aus. Es folgt nur das Hohlwort „Bildungsgerechtigkeit“. Womit sie dieses auf den nächsten 27 Seiten wohl füllen werden? Soviel vorweg: Anlass zu euphorischer Hoffnung gibt es nicht. Die Ankündigung, mehr Lehrkräfte einstellen zu wollen – das immerhin ist ein Eingeständnis, dass man der Propagandaformel von den 105 Prozent nicht mehr traut und sich etwas auf die Realität zubewegen möchte. Applaus verdiente auch ein Satz wie „Nach unserer Überzeugung müssen Bildung und Erziehung konsequent vom Kind aus gedacht und das Individuum in den Mittelpunkt der entsprechenden Denk- und Handlungsweisen gestellt werden“ (S. 6), wenn sich das im Folgenden bemerkbar machte.


Vieles kann man überhaupt nur verstehen, wenn man sich vorstellt, dass schwarze und rote Bildungsexpertinnen und -experten nächtelang um die schlagkräftigste Formulierung gerungen haben. So ist der Absatz zu Schulstruktur und Schulentwicklung (S. 7) um einen solchen Widerspruch herum gestrickt. Auf der einen Seite soll bewahrt werden, und zwar das „mehrgliedrige Schulsystem inklusive Noten und Sitzenbleiben“, also die gute alte Schulbank aus dem Heimatmuseum, ganz egal, was Wissenschaft und internationale Vergleiche dazu sagen. Deshalb solle es auch „keine Systemdebatten“ geben. Gleichwohl aber soll „pädagogische und administrative Selbstständigkeit“, vor allem wohl in selbstständigen Schulen, „weiterentwickelt“ werden. Das führt letztlich zu einem ganz neuen System vieler einzelner höchst unterschiedlicher Bildungsunternehmen – nur eben ohne öffentliche, demokratische Debatte darüber. In einer solchen könnte unter Umständen zur Sprache kommen, dass Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte im Zuge dieser Umgestaltung erheblich eingeschränkt werden. Viel rote Handschrift ist also nicht übrig geblieben.


„Löwenstark“, das Programm, das von der GEW schon 2021 als „bürokratisch, kompliziert, zu klein“ kritisiert wurde, soll verkleinert fortgeführt werden. Immerhin kündigen die Koalitionäre an, demnächst die Schulträger bei der Sanierung der zusammenbrechenden Schulgebäude unterstützen zu wollen. Zeit wär‘s, der ländliche Raum erwartet es ebenso sehnsüchtig wie die Landeshauptstadt. Statt „Unterrichtsversorgung“ müsste es „Unterrichtsunterversorgung“ heißen, denn es fallen kontinuierlich große Mengen aus. Immerhin, ab diesem Jahr soll die genaue Zahl wenigstens erfasst werden. Um qualifizierten Vertretungsunterricht zu gewährleisten, bräuchte es eine Personaldecke mit weniger Löchern. Diese sollen mit VSS-Kräften gefüllt werden. Dass die nun besser bezahlt werden sollen, ist zu begrüßen. Vermehren werden sie sich dadurch nicht automatisch, qualifizieren auch nicht.


Als zeitgemäße Form der Leistungsmessung (S. 15) wird, Überraschung, die „verpflichtende Vergabe von Ziffernnoten“ gefeiert. Zusammen mit „Nichtversetzung, Wiederholung und Querversetzung“ sollten sie die Schülerinnen und Schüler „optimal in ihrer Lernbiografie fördern“. Ein Lichtblick immerhin zum Schluss: Im Zeichen offener, flexibler, durchlässiger und gleichwertiger Bildungswege (S. 20) will man den „Realschulen die Möglichkeit geben, Schülerinnen und Schüler zum Hauptschulabschluss zu führen“. Eine Schulform, die von Natur aus offen, durchlässig und flexibel ist und alle Bildungsabschlüsse ermöglicht, vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur, ist die Integrierte Gesamtschule. Sie wurde von der CDU in den letzten Jahrzehnten mit allen Mitteln bekämpft. Kommt jetzt ihre Renaissance?
 

Auszug aus dem Koalitionsvertrag:

„Wir stärken unser Bildungsangebot von der Kita und der Schule bis zur Handwerksbank und dem Hörsaal, denn Bildung ist der Schlüssel für ein erfülltes Leben und sozialen Aufstieg. Wir stehen für Bildungsgerechtigkeit. Wir werden deshalb die Vielfalt unseres Schulsystems erhalten und fortentwickeln, mehr Lehrkräfte einstellen und die berufliche Bildung sowie die Entwicklung des Hochschulstandorts weiterentwickeln.“ (S. 3)