Heute mehr denn je!

Demokratieerziehung braucht politische Lehrerinnen und Lehrer | HLZ Juni 2024

1970er und 1980er: Kalter Krieg. Strategisches Gleichgewicht. Warschauer Pakt. NATO. Pershing II. SS 20. NATO-Doppelbeschluss. Strafantrag der Grünen gegen die Bundesregierung wegen Vorbereitung eines Angriffskriegs. PLO. Libanonkrieg. Friedensbewegung. Frauenbewegung. § 218. Gleichberechtigung. Das Private ist politisch. Ozonloch. Saurer Regen. WWF. Tschernobyl. Gesamtschulen als Antwort auf ein Bildungssystem, das zu sozialer Selektion führt. NPD. Republikaner.
 

Wolfgang Klafki stellt heraus, dass die wichtigste Aufgabe der Schule darin besteht, die Schüler*innen für die Bewältigung der Schlüsselprobleme der Zeit zu qualifizieren. Er identifiziert diese als die Frage nach Krieg und Frieden, die Frage nach dem Leben aller in der einen Welt, die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, die Frage des Zusammenlebens der Religionen, die Umweltfrage. Daraus ergibt sich als Anforderung für den Unterricht aller Fächer, dass er inhaltlich und methodisch auf diese Fragen ausgerichtet sein muss. Klafki wird dafür stark kritisiert: Die Komplexität und Verflechtung dieser großen Problemfelder könne im Unterricht kaum abgebildet werden. Es sei für Lehrer*innen kaum zu leisten, sie selbst zu überblicken.
 

2024: Krieg in der Ukraine. Krieg in Nahost. Waffenlieferungen. NATO. China. Russland. Erweiterung der NATO im Schnellverfahren. Grüne, die Waffenexporte fordern. Aufrüstung der Bundeswehr unter Beteiligung von SPD und Grünen. Nukleare Abschreckung. Klimaerwärmung. Klimagipfel in Dubai. Greenwashing-Gipfel in Dubai. Renaissance der Kernenergie in Europa. Rückläufige Verkaufszahlen bei Elektroautos. Kriminell sind Klimakleber. Wer sich das Recht auf ungebremste Emissionen erkauft, nicht. LGBTIQ-Bewegung. Geschlechtergerechtigkeit. Gendergerechtigkeit. § 218. Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer – auch in Deutschland! Nach wie vor hängt in unserem Land der Bildungserfolg von Kindern stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Verheerende PISA-Ergebnisse. AfD. NSU.
 

Die drängenden Fragen sind dieselben geblieben! Klafkis Analyse ist heute so richtig wie damals: Das wichtigste allgemeine Bildungsziel besteht darin, junge Menschen fit zu machen für eine kluge, reflektierte, engagierte Teilhabe am politischen Leben unserer Demokratie und sie an die Schlüsselprobleme unserer Zeit heranzuführen. Natürlich stimmt es, dass die Probleme, die vor uns und unseren Kindern liegen, komplex und vielschichtig miteinander verflochten sind. Daraus zu schließen, dass man nicht versuchen solle, diese Komplexität in der Schule abzubilden, ist aber grundfalsch. Denn wo ein Grundverständnis für die Zusammenhänge fehlt, die zu den gegenwärtigen Herausforderungen führen, ist der Nährboden bereitet für rechtspopulistische Propaganda, die uns das Märchen vom homogenen deutschen Volk auftischen will, das von Fremden und von korrupten Eliten bedroht ist, die das Volkswohl mit Klimalügen, Genderwahn und religiösem Fanatismus in Gefahr bringen. Mit 18 Prozent AfD-Wähler*innen belegt Hessen unter den Bundesländern dabei einen alarmierenden zweiten Platz!


Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen

Um hier gegenzusteuern, muss der Unterricht an den Schulen den Erfordernissen allgemeiner Bildung im Sinne einer Auseinandersetzung mit den epochaltypischen Schlüsselproblemen stärker Rechnung tragen. Dazu müssen die Curricula modernisiert werden und dabei zur Abwechslung die Unterrichtsinhalte in den Mittelpunkt gerückt und auf diese Schlüsselprobleme ausgerichtet werden. In der jüngsten Reform des KCGO hat man das in Hessen leider – wieder einmal – versäumt. Auch die Ausbildungsarbeit an den Studienseminaren und den allgemein- und fachdidaktischen Seminaren an den Universitäten muss Allgemeinbildung als Kernziel des Schulunterrichts wieder zum wichtigsten Bezugspunkt der Unterrichtsgestaltung erheben.
 

Außerdem ist es nötig, dass Schulen Orte sind, die Vertrauen in demokratische Strukturen stärken. Das kann zum Beispiel dadurch gelingen, dass dort für Schüler*innen ein Erleben funktionierender demokratischer Mitbestimmungsstrukturen organisiert wird. Dadurch, dass sie ernsthaft beteiligt werden an der Gestaltung des Schullebens, sei es in Bezug auf das Angebot von Schulkiosk und Mensa, in Bezug auf die Nachmittagsangebote der Schule, die an der Schule geltenden Regeln, die Taktung des Schulalltags oder auch in Bezug auf die Unterrichtsgestaltung und die Unterrichtsinhalte.
 

Mindestens genauso wichtig für eine gelingende Demokratieerziehung an Schulen ist das Vorbild, das Lehrer*innen geben. Für ihre Schüler*innen muss erkennbar sein, dass ihnen Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen nicht egal sind, weder innerhalb noch außerhalb der Schule. Lehrer*innen müssen ihrerseits als Personen mit Format und Haltung wahrgenommen werden können, etwa dadurch, dass sie sich aktiv in die Gestaltung des Schullebens einbringen, sich auch über den Unterricht hinaus in AGs oder in schulischen Gremien engagieren. Dadurch, dass sie bereit sind, sich über die Gestaltung des Schullebens mit ihren Schüler*innen auseinanderzusetzen, ihnen zuzuhören und auch einmal Zugeständnisse zu machen. Dadurch, dass sie hinsehen, Hänseleien und Mobbing nicht dulden und unterbinden, ohne dabei allein auf autoritäre Erziehungsmittel zu setzen.
 

Schüler*innen brauchen Ansprechpartner*innen, mit denen sie sich abseits vom Unterrichtsgeschehen über ihre Perspektive auf politische Ereignisse und Entwicklungen auseinandersetzen können, die dem manchmal auch Vorfahrt gegenüber den eigentlichen Unterrichtsinhalten einräumen, sie in der Unterrichtszeit zum Thema machen und ihren Schüler*innen die Reibungsfläche bieten, die nötig ist, damit sie eine eigene Haltung entwickeln können. Es ist wichtig, dass Lehrer*innen ihren Schüler*innen gegenüber klare Meinungen vertreten und sie erklären, ohne sie damit zu überwältigen oder ihnen ihre Meinung aufzudrücken.
 

Politische Lehrkräfte

Nicht zuletzt ist es hilfreich für die Demokratieerziehung, wenn Schüler*innen erleben, dass ihre Lehrer*innen selbst aktiv politische Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrnehmen – innerhalb der Schule, in der Kommunalpolitik oder darüber hinaus. Wenn sie zum Beispiel ihre eigene Arbeitssituation reflektieren und sich öffentlich – und auch für ihre Schüler*innen sichtbar – für bildungspolitische Verbesserungen einsetzen. Kurz gesagt: Politische Partizipation kann man nur von Lehrer*innen lernen, die selbst – wenigstens ein bisschen – politisch denken und handeln.
 

Aus der rechtspopulistischen Ecke gibt es immer wieder Versuche, mit Hinweis auf das Neutralitätsgebot und das Gebot der politischen Mäßigung, Lehrer*innen davon abzuhalten, ihre Meinung zu äußern oder teilweise stark rechtspopulistisch akzentuierte Äußerungen von Schüler*innen zu problematisieren. § 56 (5) der Verfassung des Landes Hessen verlangt aber von uns: „Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.“ Wir sind verfassungsmäßig aufgefordert, demokratie- und menschenverachtende Haltungen in der Schule nicht zu dulden, zu unterbinden!
 

Damit aus Referendar*innen politisch denkende Lehrer*innen werden können, sollten ihnen in ihrer Ausbildungszeit ebenfalls die oben beschriebenen Bedingungen entgegengebracht werden: Sie sollten Ausbilder*innen erleben, die ihnen zwar Reibungsflächen bieten, ihnen aber auch echte Partizipationsmöglichkeiten hinsichtlich der Gestaltung des Ausbildungsalltags und der Ausbildungsinhalte einräumen. Wo die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst den Eindruck haben, dass das nicht so ist, sollten sie versuchen, selbst aktiv zu werden und mit ihren Ausbilder*innen ins Gespräch zu kommen, sollten ihre Interessen und Anliegen vorbringen und konstruktive Gestaltungsvorschläge machen. Gegebenenfalls steht ihnen an den Studienseminaren der Weg über die Gremien für die Mitbestimmung und die Vertretung der Interessen der Referendar*innen offen. Nur wer sich einmischt, kann etwas verändern.

Das von der GEW Hessen herausgegebene LiV Spektrum richtet sich an alle Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst in Hessen. Auf 150 Seiten gibt es Praxistipps, schildert die rechtlichen Rahmenbedingungen des Vorbereitungsdiensts und bietet darüber hinaus wertvolle Hintergrundinformationen.
 

Das LiV Spektrum ist in die folgenden Kapitel untergliedert:
•   Ausbildung
•   Prüfungen
•   Berufseinstieg
•   Schule und Gesellschaft
•   Interessenvertretung
•   Recht und Geld
•   Und danach …
•   GEW in eigener Sache
•   Studienseminare

Das LiV Spektrum erscheint online und kann auf der Homepage der GEW Hessen kostenfrei in einer mobilen Ansicht gelesen oder als PDF-Datei heruntergeladen werden.