Kunstunterricht – heute und morgen

Ästhetische Erfahrungen ermöglichen, Bildkompetenz fördern | HLZ 7-8 2024

 

„Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen – in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts“ (in Peez, 2022, 25).
 

Mit diesen Worten charakterisieren Constanze Kirchner und Gunter Otto die Hauptaufgabe heutiger Kunstpädagogik, sowohl schulisch als auch außerschulisch. Diese Aufgabe besteht nicht in der Vermittlung von Kunst, sondern kunstpädagogische Grundintentionen zielen auf die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen im Bildnerischen ab. Hierzu gehört die visuelle Kultur der Alltagswelt, beispielsweise Fotografie, Video, Werbung, Comics, Memes, Virtual Reality, digitale Bildbearbeitung sowie Bildgenerierung und natürlich auch die bildende Kunst, beispielsweise Malerei, Grafik, Plastik beziehungsweise Skulptur, Performance, Installationen oder interaktive digitale Werke.


Ästhetische Erfahrungen im Bildnerischen

Jede ästhetische Erfahrung enthält eine zweifache Orientierung: Zum einen sollte sie auf die sinnlichen Anteile der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein. Zum anderen sollte dem Spüren und Wahrnehmen ein Sinn gegeben werden: Es geht um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten. Erst wenn wir einer sinnlichen Wahrnehmung gewahr werden, wenn wir sie mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. Dies muss nicht in Worte gefasst werden, es sollte aber reflexiv verfügbar sein.
 

Kunstpädagogik geht davon aus, dass im Alltag und in der Sozialisation nicht genügend Situationen geboten werden, in denen ästhetische Erfahrungen im Bildnerischen in ausreichendem Maße und tiefgreifend zu machen sind: ästhetische Erfahrungen, die nicht einfach „schöne Erfahrungen“, sondern grundlegend für Bildungsprozesse sind. Anders gesagt: Für die Entwicklung (selbst-)kritischer und selbstbestimmter ästhetischer Entscheidungen sind Impulse, Gegenerfahrungen, Irritationen und Wissen erforderlich. Sinnlichkeit und Sinn, Produktion und Reflexion verbinden sich.


Fachbezogene Kompetenzbereiche

Dies ist so auch in den hessischen Bildungsstandards für das Fach Kunst in der Sekundarstufe I im Rahmen der vier zentralen fachbezogenen Kompetenzbereiche festgehalten:
• Rezeption: Sehen, Wahrnehmen und Erfahren
• Praxis und Produktion: Planen, Gestalten und Handeln
• Reflexion: Verstehen, Begreifen und Erklären
• Präsentation und Wissen: sich orientieren, sich definieren und sich zeigen

In der Kunstpädagogik spricht man zusammenfassend von „Bildkompetenz“.


Bildkompetenz

Das Visuelle wird in unserer Kultur immer wichtiger. Kinder und Jugendliche erwerben aber im Alltag kaum bildungsrelevante Kompetenzen, mit Bildern autonom umzugehen, Bilder angemessen zu rezipieren oder selbst reflexiv herzustellen. Der großen Bedeutung der Bildsprache und Bildzeichen in unserer Kultur und im Alltag werden Kunstlehrende im schulischen Fächerkanon gerecht. Bildbezogene Erfahrungs- und Lernprozesse sind unverzichtbare Elemente allgemeiner Bildung.


Fachlegitimation

Zwar werden „ästhetische Erfahrungen“ und „Bildkompetenz“ im Fach Kunst verbunden und spielen intern in der Praxis schulischen Kunstunterrichts oft eine ausgewogene Rolle. Doch in bildungspolitisch ausgerichteten Fachlegitimationen wird zugleich extern langfristig offenbar die Bildkompetenz stärker hervortreten. Denn die Bildkompetenz ist mit ihren rezeptiven und gestalterisch-praktischen Anteilen in den Bildungsstandards fest verankert. Sie hat Potenziale eines Alleinstellungsmerkmals gegenüber den anderen, ebenfalls kompetenzorientierten Schulfächern. Zugleich müssen Bezüge zur ästhetischen Erfahrung und ästhetischen Bildung sowie die Kunstbezüge explizit geknüpft werden, um die fachlichen Möglichkeiten umfassend ausschöpfen zu können.


Drei kunstdidaktische Ausrichtungen

Im gegenwärtigen kunstdidaktischen Diskurs haben sich drei Positionen etabliert.

Bild-Orientierung
Weltaneignung und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen werden zweifellos von ihrem Bildgebrauch maßgeblich geprägt. Hierdurch ergibt sich – wie oben erläutert – ein ständig wachsender Bedarf an Bildkompetenz. Als Argumente pro Bild-Orientierung lassen sich anführen, dass die Begründung des Schulfaches Kunst durch Anschluss an die Kompetenz-Diskussion erfolgt, die Bedeutung des Bildes als Grundlage für Bildung wird herausgestellt, und eine Orientierung an den visuellen Medien-Welten der Jugend ist für das Konzept prägend. Argumente contra Bild-Orientierung lauten, dass die Gefahr der Marginalisierung von Kunst besteht, da es um Bilder im Allgemeinen geht und Kunst unter Bilder subsummiert wird. Rationales Verstehen und Erklären würden zu stark betont, so dass dadurch das Fach an künstlerischer Authentizität verlöre.
 

Kunst-Orientierung
Nach dem Ansatz der Kunst-Orientierung sollte es darum gehen, Vermittlungs- und Handlungsprozesse „kunstanalog“ zu initiieren. Mit der „Begründung der Kunstdidaktik aus der Kunst heraus“ wird es zum Ziel, „künstlerische Formen des Denkens in kunstdidaktischen Prozessen auszubilden“, um „künstlerische Handlungsweisen“ (Buschkühle nach Peez, 2022, 76) anzuwenden und einzuüben. Die Kunst spielt in dieser Argumentation die zentrale Rolle. Durch die Öffnung und Erweiterung des Kunstbegriffs verschließt sich diese Orientierung zugleich nicht den pluralen Gegenstandsbereichen des Faches Kunst. Denn unter einem erweiterten Kunstbegriff kann man sich auf praktisch alles beziehen. Die Kunstdidaktik initiiert kunstähnliche Prozesse und ermöglicht auf diesem Wege neue Kunst- und Alltagserfahrungen mit dem hohen Ziel der „Lebenskunst“. Als Argumente pro Kunst-Orientierung sind zu nennen: Die Besinnung des Faches Kunst auf seinen Namen erhöht die Unverwechselbarkeit. Das Fach berücksichtigt alle Lebensbereiche, denn die avantgardistische, zeitgenössische Kunst thematisiert diese ebenfalls. Argumente contra Kunst-Orientierung sind, dass das Konzept auf eine zu starke Betonung irrationalistischer, elitärer Kunsterfahrung setzt. Es ist eine Überschätzung der Möglichkeiten des Nebenfaches Kunst zu konstatieren. Und es gibt zu wenige tatsächliche Verbindungen zwischen zeitgenössischer Kunst und der Lebenswelt der allermeisten Heranwachsenden.
 

Subjekt-Orientierung
In einem dritten Konzept steht die Person im Fokus. Kinder und Jugendliche und ihre ästhetisch forschenden Interessen sind hier der Ausgangspunkt. Es werden sehr offene Aufgaben gestellt beziehungsweise Themenschwerpunkte festgelegt, die innerhalb eines werkstattähnlichen Settings bearbeitet werden. Ästhetische und kulturelle Selbstbildungsprozesse können hierdurch angeregt und gefördert werden. Weil sich ästhetische Bildung durch das Merkmal des Erkundens einer selbst gewählten Thematik auszeichnet, hat sich der Begriff der „Ästhetischen Forschung“ (nach Kämpf-Jansen) etabliert. Alles Material und jede Thematik können genutzt werden, wenn sie für die Einzelnen bedeutsam sind. Für die Subjekt-Orientierung spricht, dass die Pädagogik immer vom einzelnen Menschen und dessen Individualität ausgehen muss, dass die Biografie die Grundlage jeder ästhetischen Erfahrung und jedes ästhetischen Tuns ist und eine Öffnung von Schule hin zum Alltag konsequent verfolgt wird. Als Argument contra Subjekt-Orientierung lässt sich anführen, dass die Zentrierung auf die persönliche, subjektbezogene Perspektive ein mögliches Ausblenden des Fremden und Unbekannten bedingt. Dies birgt die Gefahr der vorwiegenden Bearbeitung von Lieblingsthemen und Hobbys in sich.


Resümee

Ästhetische Erfahrungen und bild- beziehungsweise kunstspezifische Kompetenzen sind anhand aller drei hier dargestellten idealtypischen kunstdidaktischen Positionen zu erreichen. Aus Sicht der Praxis garantiert keines der Konzepte quasi per se kunstdidaktisch hochwertigen Unterricht. Dies ist durchaus auch als ein Plädoyer für Pluralität zu verstehen.

 
Wenn aber mit allen Konzepten sinnvolle Kunstpädagogik geschehen kann, dann wäre ja eigentlich egal, auf welches Konzept man sich beruft. Egal ist es jedoch nicht, denn die Legitimation nach außen gibt vor, wie das Fach Kunst wahrgenommen wird, wie es sich im Diskurs – im Kollegium, mit den Eltern und der Öffentlichkeit – positioniert. Richtet Kunstpädagogik ihre Intentionen an dem Bild und damit der Bildkompetenz aus? Versteht sie ihren Unterricht als kunstanalogen Prozess und stellt die Kunst ins Zentrum? Oder beginnt sie ihre didaktischen Überlegungen bei der Persönlichkeit der einzelnen Lernenden und deren Biografie?


Prof. Dr. Georg Peez leitet am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt den Schwerpunkt Kunstdidaktik.

Weiterführende Literatur
Peez, Georg (2022): Einführung in die Kunstpädagogik. Stuttgart. 6. Auflage.