Startchancen-Programm

Ein hessischer Sozialindex für die Auswahl der Schulen | HLZ Juni 2024

 

Das Startchancen-Programm als zentrales bildungspolitisches Reformvorhaben der Regierungskoalition des Bundes sieht ab dem Schuljahr 2024/25 die gezielte Förderung von etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schülerinnen und Schüler vor. Die Bundesregierung plant eine zehnjährige Finanzierung  mit jährlich bis zu einer Milliarde Euro und erwartet eine Beteiligung der Länder in gleicher Höhe. 40 Prozent der Mittel sollen für Schulbauinvestitionen verwendet werden. Ein Chancenbudget und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen – jeweils im Umfang von 30 Prozent – sollen an die einzelschulischen Bedingungen angepasste Zusatzmaßnahmen ermöglichen.


Etwa eine Million Schülerinnen und Schüler und damit rund 10 Prozent sollen von dem Programm profitieren, das sich auf Grundschulen konzentrieren soll. Für Hessen wird es etwa 75.000 Schülerinnen und Schüler betreffen, davon 45.000 in der Grundschule. Es bedeutet jährlich etwa 80 Millionen Euro zusätzliche Bundesmittel, die durch das Land verdoppelt werden müssen, soweit das Land nicht bereits gezielt die Programmschulen mit eigenen Mitteln fördert, die angerechnet werden können. Verlangt wird die Auswahl über einen auf die einzelnen Schulen bezogenen Sozialindex, der die Benachteiligungsdimensionen Armut und Migration berücksichtigt. Bisher zieht der hessische Sozialindex auch Gemeindemerkmale heran, die insbesondere die sozialen Unterschiede zwischen den Schulen in den Großstädten nivellieren.
 

Vorschlag für einen Sozialindex

Hessen erfasst über die Schulstatistik den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache und im Rahmen der Lernstandserhebungen in der 3. und 8. Klassenstufe die Zahl der Bücher im Haushalt – angelehnt an die entsprechende Frage bei den IQB-Bildungstrends. Diese Merkmale haben sich bewährt, um Bildungsbenachteiligung zu erfassen. Im Rahmen des IQB-Bildungstrends wird zwar eine nichtdeutsche Familiensprache erfasst und auch darauf hingewiesen, dass dieses Merkmal sehr einflussreich ist. Dennoch liegen dazu keine Daten im Rahmen der IQB-Auswertungen nach Ländern vor. Auswertungen von VERA 3-Daten zeigen aber, dass Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache im Durchschnitt im Lesen um eineinhalb Jahre hinter der Vergleichsgruppe zurückliegen (Weishaupt 2024). Schülerinnen und Schüler mit bis zu 100 Büchern im Haushalt (als Indikator für einen niedrigen sozialen Status) haben am Ende des 4. Schuljahrs in Hessen im Durchschnitt einen Leistungsrückstand im Lesen von einem Schuljahr (Stanat u.a. 2022, S.166).


Um die durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern, müssen vorrangig die Leistungsdefizite bei den betroffenen Gruppen, sozial Benachteiligte und Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache, verringert werden. Dies bedingt die bevorzugte Förderung der Schulen, an denen sich diese Gruppen konzentrieren. An den öffentlichen Schulen in Hessen gaben im Schuljahr 2022/23 gut 33 Prozent eine nichtdeutsche Familiensprache an, die eher einen Hinweis auf einen erhöhten schulischen Förderbedarf gibt als der Migrationshintergrund. Über eine Zusatzfrage im Rahmen der VERA-Leistungsvergleichsuntersuchung wird bei allen Schülerinnen und Schülern der 3. und 8. Klassenstufe der Buchbesitz im Haushalt erfasst. Von der Hessischen Lehrkräfteakademie konnten diese Daten für die Schuljahre 2021/22 und 2022/23 bereitgestellt und die Angaben der beiden Jahrgänge zusammengefasst werden, um eine breitere Datenbasis zu erhalten.


Wegen der Vergleichbarkeit mit veröffentlichten IQB-Ergebnissen wurde der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit bis zu 100 Büchern im Haushalt von 54,7 Prozent für die weiteren Analysen ausgewählt. Im IQB-Bildungstrend gaben bei den letzten Erhebungen zwei Drittel der Viertklässler und 57,9 Prozent der Achtklässler an, bis zu 100 Bücher im Haushalt zu besitzen. Aus der Kombination des Anteils der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache und geringem Buchbesitz lässt sich ein auf die einzelne Schule bezogener aussagekräftiger Sozialindex bilden, hier wird aber eine Schulauswahl über die beiden gewählten Indikatoren vorgenommen (siehe Tabelle).


Zwischen den Schulen variiert der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache zwischen 0 und 92,1 Prozent, der Anteil mit bis zu 100 Büchern im Haushalt zwischen 4,8 und 100 Prozent. Empfohlen wird, auch mit Blick auf das Startchancen-Programm, alle Schulen mit mehr als 75 Prozent Schülerinnen und Schüler mit bis zu 100 Büchern im Haushalt und mehr als 50 Prozent mit nichtdeutscher Alltagssprache als sozial benachteiligt zu klassifizieren. Angesichts der Unterschiede in den sozialen Bedingungen erscheint es ratsam, die zusätzliche Förderung schulspezifisch zu differenzieren. Außerdem sollte der Förderumfang kontinuierlich gesteigert werden.


Nach Schularten sind die Kombinationsschularten einschließlich der Integrierten Gesamtschulen fast zur Hälfte Schulen mit sozioökonomisch benachteiligter Schülerschaft, bei den Gymnasien ist es nur jede zehnte Schule. Grundschulen und Kooperative Gesamtschulen liegen mit dem Anteil der Schulen mit sozioökonomisch benachteiligter Schülerschaft leicht unter dem Landesdurchschnitt. Auch regional gibt es große Unterschiede, wie der Abbildung für die Grundschulen entnommen werden kann. Mehr als ein Fünftel aller Schulen mit sozioökonomisch benachteiligter Schülerschaft liegen in Frankfurt.


Was kann das Startchancen-Programm bewirken?

Mit den Investitionsmitteln aus dem Programm würden sich in Hessen die Mittel um 34,8 Millionen Euro und damit etwa 7,4 Prozent jährlich erhöhen. Zusammen mit der Kofinanzierung durch das Land führen sie zu einer gezielten Erhöhung der Schulbauinvestitionen. Da die Personalausgaben fast 80 Prozent des Schulhaushalts umfassen, bedeuten die Bundesmittel bestenfalls für den Ausbau der Schulsozialarbeit und die Einrichtung multiprofessioneller Teams eine wirkungsvolle Zusatzfinanzierung. Durchschnittlich etwa 50.000 Euro jährliche Bundesmittel für das Schulbudget pro Grundschule und etwa 150.000 Euro für Schulen der Sekundarstufe I sind ohne erhebliche Zusatzmittel des Landes völlig unzureichend. Dies zeigt nicht nur das erfolgreiche Programm „London challenge“, sondern auch die Schulfinanzierung in Hamburg, wo Schulen mit schwierigen sozialen Bedingungen bis zu 50 Prozent mehr Personal erhalten.


Eine Kofinanzierung des Startchancen-Programms durch Hessen ist folglich nicht ausreichend. Das Programm erfasst bei weitem nicht alle sozial belasteten Grund- und Sekundarstufenschulen. Um eine wirksame Zusatzförderung zu erreichen, müsste das Land den durchschnittlichen Personalbestand an den Schulen mit sozioökonomisch benachteiligter Schülerschaft um ein Viertel, also die Personalausgaben insgesamt um 5 Prozent erhöhen. Nur dann wird das Land seiner aus der Kulturhoheit der Länder resultierenden Verantwortung gerecht. Oder gilt für Hessen nicht, was der Bundespräsident bei der Verleihung des Deutschen Schulpreises forderte:


„Jedem Kind bis zum Ende der vierten Klasse Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen; jede Schule so ausstatten, dass Schüler und Lehrkräfte gerne hingehen; jede Schule zu einem Ort des Respekts und der Toleranz machen.“


Literatur

Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K.A., Weirich, S. & Henschel, S. (Hrsg.) (2022). IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster: Waxmann.
Weishaupt, H. (2024). Sozialindex für die Grundschulen und Kofinanzierung des Startchancen-Programms. In: SchVw BW 2/2024, 36-40.